Landeskirche: 62 Pastoren sollen sexualisierte Gewalt verübt haben

Die hannoversche Landeskirche hat bei der Durchsicht von Akten 62 Verdachtsfälle und bestätigte Fälle ermittelt, in denen evangelische Pastoren seit 1946 sexualisierte Gewalt an Minderjährigen verübt haben sollen. Das teilte die evangelisch-lutherische Landeskirche am Donnerstag in Hannover mit. Die Angaben wurden an die Autoren der ersten unabhängigen Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland übermittelt, die am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Die sogenannte „ForuM-Studie“ soll erstmals Berechnungen zu bundesweiten Fallzahlen enthalten sowie Analysen über strukturelle Ursachen von sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie.

Die Landeskirche Hannover, die drei Viertel Niedersachsens umfasst, hatte dafür Disziplinarakten und andere Akten aus den Jahren 1946 bis April 2023 ausgewertet. Bei einem Teil der Fälle wurden die Täter, die allesamt männlich waren, bereits von einem Gericht verurteilt. Bei der Mehrzahl ist jedoch von Beschuldigten die Rede. Betroffen waren rund 100 Minderjährige. Experten gehen aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Der überwiegende Teil der Fälle ereignete sich nach Angaben eines Kirchensprechers in der Zeit von den 1940-er bis Ende der 1970-er Jahre.

Ein Teil der Fälle wurde in den Akten unter „Ehebruch“ geführt, erwies sich bei näherem Hinsehen jedoch als sexualisierte Gewalt. Die beschuldigten Pastoren wurden teilweise in andere Gemeinden versetzt. Die meisten von ihnen sind bereits verstorben. Sofern sie noch leben, seien die Fälle der Staatsanwaltschaft übergeben worden, betonte der Sprecher. Hinzu kommen 48 bestätigte Fälle und Verdachtsfälle aus anderen kirchlichen Berufsgruppen wie Diakone oder Musiker, die jedoch in der Studie nur teilweise berücksichtigt werden.

Weitere zwölf beschuldigte Pastoren arbeiteten bei der Diakonie. Die Diakonie in Niedersachsen nannte für die Studie weitere 106 Betroffene aus ihren Heimen und Einrichtungen, denen bis zum 31. Dezember 2020 Anerkennungszahlungen gewährt wurden. Ein Sichten von Akten war laut einer Sprecherin für die Diakonie nicht angefragt worden. Unter den Betroffenen sind mit 55 Jungen und sechs Mädchen weit mehr als die Hälfte Kinder unter 14 Jahren.

Für 99 der Fälle führt die Diakonie insgesamt 158 Beschuldigte mehrerer Berufsgruppen auf. Darunter sind neben den zwölf Pastoren 38 Diakone sowie Mitarbeitende aus den Bereichen Schule oder Jugendhilfe. Darüber hinaus sollen auch weitere Mitarbeitende wie Hausmeister oder Praktikanten beteiligt gewesen sein. Kennzeichnend für die Diakonie ist, dass es mehr Beschuldigte als Betroffene gibt. Einige Betroffene wurden von mehreren Beschuldigten sexuell misshandelt.