Kuscheln mit Wildfremden? Zu Besuch im Berliner „Kuschelraum“
Kuscheln mit Wildfremden? Der Berliner „Kuschelraum“ lädt alle Menschen, die körperliche Nähe suchen, zum Kuscheln ein. Es geht um Stressabbau. Und es gibt klare Regeln. Sex ist tabu.
Tina wirkt wie weggebeamt. Ihr Kopf liegt in Rubems Schoß, die Augen hat sie geschlossen. In wiederkehrenden, sanften Wellen streicht er ihr über Arme und Rücken. Ihr Gesicht entspannt sich, wird ganz weich. Schließlich beugt sich Rubem vor und bedeckt sie mit seinem Oberkörper. Tina fühlt sie jetzt wie in einem Kokon.
Der „Kokon“ ist eine von 32 Kuschelpositionen, die im Berliner „Kuschelraum“ von Angeline Heilfort und Rubem Joy Fockink zum Nachmachen vorgeschlagen werden. Die Positionen, in denen sich zum Teil wildfremde Menschen hier aneinanderschmiegen, haben Namen, die tiefe Geborgenheit versprechen: „Wiege“, „Lieblingsplatz“, „Unterm Flügel“, „Traumfängerin“, „Abrahams Schoß“.
„Das ist für mich Stressabbau“
Seit anderthalb Jahren geht Tina zur Kuscheltherapie bei Rubem oder Angeline. „Das ist für mich Stressabbau“, berichtet die 48-jährige Schauspielerin: „Hier kann ich entspannen und fühle mich sicher und geborgen.“
Angebote für Kuscheltherapien gibt es mittlerweile in vielen deutschen Städten. Ihren Ursprung haben sie in US-Großstädten, wo das gemeinsame Kuscheln schon vor Jahren in Mode kam. Auch in Deutschland wächst die „Kuschellandschaft“, wie Heilfort und Fockink sagen. Von den Krankenkassen anerkannt werden die Therapien aber bisher nicht.
Tina wurde das Kuscheln unter professioneller Anleitung von Freunden empfohlen. Sie wollte eine seelische Leere aus der Pandemie-Zeit wieder auffüllen. Anfänglich sei sie skeptisch gewesen, berichtet Tina: „In meiner Vorstellung waren dort komische Männer, die Sex wollen.“ Als sie dann das erste Mal in den „Kuschelraum“ von Angeline und Rubem kam, wusste sie sofort: „Das ist genau das Richtige für mich.“
Klare Regeln bei Kuschel-Sessions
Angeline und Rubem, Selbstbezeichnung Kuscheltherapeutin/Kuscheltherapeut, haben für die von ihnen gecoachten Kuschel-Sessions klare Regeln aufgestellt. Dazu zählen Pünktlichkeit, Hygiene, Achtsamkeit, Respekt, keine sexuellen Handlungen. Absolut tabu sind während des Kuschelns Küssen und der Intimbereich. Es geht ausschließlich um „absichtslose Berührungen“.
Alles andere ist Verhandlungssache. Das sei auch ein Bestandteil der Therapie, sagt Rubem. Die Menschen sollen lernen, ihre eigenen Grenzen bei körperlichen Berührungen zu erspüren. Und solle lernen, das klar nach außen zu kommunizieren. Das sei gut fürs Selbstbewusstsein. „Wenn ich mich unwohl fühle, überträgt sich das sonst auf die andere Person“, sagt Fockink. Das gelte für Klient und Therapeut gleichermaßen.
Ergänzendes Begleitangebot zur klassischen Psychotherapie
Die Gründe, warum Menschen zum Kuscheln kommen, sind so vielfältig, wie die Menschen selbst, hat Fockink beobachtet: „Manche wollen einfach entspannen, manche wollen negative Erlebnisse mit neuen, positiven Erfahrungen überschreiben, andere wollen sich selbst besser kennenlernen.“ Es eine sie eine große Sehnsucht nach Geborgenheit.
Fockink und Heilfort verstehen ihre Kuscheltherapie auch als ergänzendes Begleitangebot zur klassischen Psychotherapie. Dort sei Anfassen in den Therapiesitzungen absolut tabu, auch wenn eine große Vertrautheit zwischen Therapeuten und Patienten bestehe. „Bei uns können die Leute das nachholen“, sagt Fockink.
90 bis 150 Euro pro Kuschel-Einheit
Zwischen 90 und 150 Euro kostet eine Session bei den Kuscheltherapeuten, je nach Dauer und Intensität. Neue Klientinnen und Klienten werden zunächst ausführlich befragt und über die Regeln aufgeklärt, bevor die erste Kuschel-Session startet. „Es muss Vertrauen aufgebaut werden“, sagt Rubem. Das Kuscheln funktioniere nur, wenn zwischen Kuschel-Therapeut und Klient volles Einverständnis herrsche. Auch sei von ihm bei jeder Sitzung „volle Präsenz“ gefordert: „Es überträgt sich auf die Person, wenn ich mich unwohl fühle oder nicht richtig bei der Sache bin.“
Die Belohnung für die Kuschlerinnen und Kuschler ist bestenfalls die Ausschüttung von Glückshormonen wie Oxytocin, Serontonin oder Dopamin. Viele verließen die Sessions in einem Zustand von Glückseligkeit, berichtet Angeline Heilfort.
Die 48-jährige Tina geht in der Regel einmal im Monat zu einer Session. Vieles, was sie dort erlebe, lasse sich auf Alltag übertragen, sagt sie. Zum Beispiel, die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und Grenzen zu setzen. „Ich mache das aus einer Fülle heraus, und nicht aus einem Mangel“, sagt die Schauspielerin. So oft wie möglich gehe sie zudem auf Kuschelpartys. Schon die gelösten Gesichter danach seien eine Freude.