Kurzer Zwischenstopp bei Gott

In diesen Tagen werden wieder viele Menschen auf den Straßen unterwegs sein, um an ihr Urlaubsziel zu gelangen. Autobahnkirchen bieten den Reisenden die Möglichkeit, zwischendurch Halt zu machen, das Tempo hinaus zunehmen, den Stau zu vergessen und kurz innezuhalten.

Der Innenraum der Autobahnkirche in Exter ist hell und klar gestaltet.
Der Innenraum der Autobahnkirche in Exter ist hell und klar gestaltet.Ralf-Thomas Lindner

Von Ralf-Thomas Lindner

Exter/Vlotho. Ein Indianer fährt zum ersten Mal in seinem Leben in einem Auto mit. Der Fahrer will seinen Fahrergast beeindrucken und holt alles an Tempo aus seinem Wagen heraus, was dieser zu bieten hat. Nach etwa 50 Kilometern bittet der Indianer den Fahrer anzuhalten, steigt aus dem Auto und setzt sich an den Straßenrand. "Was soll das denn?", fragt ihn der Fahrer. Der Indianer antwortet: "Ich warte, dass meine Seele nachkommen kann".

Ein Rastplatz für die Seele

Oft gilt es im Urlaub, so wie in den nun bevorstehenden Sommerferien, viele Kilometer bis zum Urlaubsort möglichst schnell hinter sich zu bringen. Außerhalb und innerhalb des Autos brütende Hitze und auf der Straße viele andere Fahrzeuge, die mindestens ebenso schnell weiterkommen wollen. Eine Baustelle. Ein Stau. Eine Unachtsamkeit. Ein Beinahe-Unfall. Alle anderen Fahrer sind Idioten, die ihren Führerschein zurückgeben sollten. Jedes Jahr wird es mehr, schneller und schlimmer. Ganz selbstverständlich wird unterwegs an der Tankstelle angehalten und das Auto bekommt Benzin. Ebenso selbstverständlich wird vielleicht mit einem Schnitzel und einer Tasse Kaffee der Körper der Reisenden aufgetankt. Für die Seele, das Innere des Menschen, gibt es in Deutschland 44 Autobahnkirchen, die dazu einladen, Halt zu machen, die Stille des Ortes zu genießen, innerlich zur Ruhe zu kommen und ein wenig Kraft zu tanken.

Auf die Idee, eine Kirche als Autobahnkirche zu deklarieren kam Anfang der 1950er-Jahre Jahre Pastor Wilhelm Gröne im westfälischen Exter, heute ein Ortsteil von Vlotho. Seit dem Bau der Autobahn A2 wurde der kleine Ort Exter durch die Straße in zwei Teile geteilt. Gröne selbst wohnte auf der einen Seite der Autobahn, seine Gemeindekirche stand auf der anderen Seite. Der kürzeste Weg zur Kirche war für ihn direkt über die Autobahn. Mit der Zeit stellte Gröne fest, dass es immer schwieriger wurde, die Autobahn zu kreuzen, weil der Verkehr erheblich zunahm.

Die Besucher wollen vor allem Ruhe

Als 1951 große Teile der Kirche abgerissen und neu gebaut wurden, hatte Gröne die Idee, eine Kirche zu bauen, die man von der Autobahn aus sehen könne und die auch für die vorbeikommenden Autofahrer offen stünde. Dazu wollte er den Turm doppelt so hoch ausbauen, die Kirche Tag und Nacht mit großen Schweinwerfern anstrahlen und auf der Autobahn selbst Hinweisschilder zur Autobahnkirche anbringen. Der Turm hat zwar seine alte Höhe behalten, Scheinwerfer und Verkehrsschilder gibt es aber. Ralf Steiner, der heutige Pfarrer in Exter, beschreibt das Phänomen Autobahnkirche als "Selbstläufer". Die Menschen, die in die Kirche kommen, wollen ihre Ruhe haben. "Sie brauchen keinen Geistlichen, der mit ihnen redet, sind eher gestört, wenn man durch die Kirche geht", erzählt Steiner. Sie wollen einfach die Kirche als "Raum der Stille" nutzen, in der Bankreihe sitzen, die Ruhe genießen und vielleicht mit Gott reden, beten.

"Ich komme alle sechs Wochen, bin hier quasi Stammkunde. Ich fahre für mein Geschäft von Gütersloh nach Hannover im Großmarkt einkaufen", erzählt eine Besucherin. Das sei eigentlich keine so lange Strecke, man könnte durchfahren. "Aber hier mache ich immer Pause, habe immer einen Parkplatz und genieße gerade im Sommer die Kühle der Kirche. Ich bin ein gläubiger Mensch und möchte meinem Gott dafür danken, dass mir auf dem Weg nichts passiert ist".
Pfarrer Steiner kennt solche Besucher: "Die Menschen, die hierher kommen, haben ihren eigenen Zugang zu Gott und zum Glauben". Viele gehen regelmäßig in Autobahnkirchen, sind aber sonst in der Kirche nicht zu finden. Anders als in regulären Gemeinden, die heute sehr von Frauen geprägt sind, kommen hierher vor allem Männer. "Sie sind zumeist keine Gemeindechristen", weiß Steiner zu berichten, "und daher sind die Autobahnkirchen auch als Orte wertvoll geworden, wo neue und andere Menschen als in den Kirchengemeinden überall im Land den Weg in ein Gotteshaus finden". In Exter hat man darüber nachgedacht, einen Kaffeeautomaten aufzustellen und sich dann dagegen entschieden. "Der wird einfach nicht gebraucht. Stille, Gebet und vielleicht eine Toilette – mehr wird nicht benötigt", sagt Steiner.

Ein Roter Teppich empfängt jeden Besucher

Viele der Besucher zünden eine Kerze an oder sie schreiben in das ausliegende Anliegen- und Gebetbuch. "Danke, lieber Gott, dass Du uns bis hierher beschützt hast! Die Einkehr in Dein Haus tut unseren Seelen gut", kann man dort lesen. Oder: "Danke für die vielen behüteten Fahrten auf der Autobahn". Wenn man die Kirche betritt, schreitet man auf einem roten Teppich auf den Altar zu. "Der rote Teppich ist sonst nur wichtigen Persönlichkeiten vorbehalten, hier in der Kirche aber ist jeder wichtig und wird auch so empfangen. Mit einem roten Teppich", sagt Steiner. "Man geht direkt auf das Fenster hinter dem Altar zu, von dem aus Jesus einen mit lebendigen blauen Augen ansieht". Davor steht an der Wand "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken". Dieses Ensemble wirke von selbst und verführe ohne weiteres geistliches Personal zu Ruhe und Besinnung, meint Steiner. Aber die Autobahn hat auch eine andere Seite – sie kann lebensgefährlich sein. Manchmal passiert etwas, manchmal kommen Menschen auf der Autobahn um, verlieren ihr Leben. Dann wird Hilfe benötigt von Autobahnpolizei, Feuerwehr, Autobahnmeisterei – und einem Notfallseelsorger. Steiner, wie auch seine Kollegen in anderen Autobahnkirchen, sieht seine Aufgabe auch in der Betreuung derer, die auf der Autobahn oft ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um anderen Menschen zu helfen, sie zu bergen, sie zu versorgen, zu retten.

Einmal jährlich, am ersten Wochenende im März, lädt er zu einem Blaulichtgottesdienst ein, in dem er die Helfer auf der Autobahn in den Blick nimmt. Er weiß um die Herausforderungen ihrer Arbeit, gelegentlich fährt er mit zu Einsätzen: "Das ist der Grund, warum ich Seelsorger geworden bin. Es mag komisch klingen: Es ist auch für mich eine schwere Arbeit, aber wenn ich abends nach Hause komme, empfinde ich auch ein wenig Glück und Dankbarkeit dafür, dass ich helfen durfte", sagt Ralf Steiner.

Eine Kapelle in einer alten Tankstelle

Mehr als eine Million Besucher verzeichnen alle deutschen Autobahnkirchen jährlich gemeinsam. Finanziert werden die meisten aus privaten Initiativen. Die beiden christlichen Kirchen stehen voll hinter dieser Arbeit, sind aber selbst zumeist nur am Rande eingebunden.
Die erste als Autobahnkirche gebaute Kirche in Adelsried an der A8 wurde durch eine Spende eines Papierfabrikanten finanziert, der kurz zuvor seine Tochter bei einem Autounfall verloren hatte. Die Autobahnkapelle Hamm an der A2 ist in einer denkmalgeschützten Tankstelle untergebracht. Manche Autobahnkirchen sind wie Exter zugleich Gemeindekirchen, manche wurden – wie etwa die landschaftlich schön gelegene Autobahnkapelle Leutkirch an der A96 – als Autobahnkirche entworfen und gebaut. Architektonisch herausragend ist die Autobahnkirche Siegerland an der A45 mit ihrem futuristisch anmutenden Bau. Alle haben sie eines gemeinsam: Sie sind Zufluchtsorte aus der schnellen Welt voller flüchtiger Eindrücke in das eigene Ich. Orte, die man einfach mal besuchen sollte – ob man an Gott glaubt oder nicht.

Weitere Infos gibt es online unter www.autobahnkirche.de.