Küssen verboten? – Zur Kuss-Attacke auf Annalena Baerbock

Als schönste Impfung der Welt bezeichnen Krankenkassen das Küssen. Das Immunsystem werde angekurbelt; Vielküsser lebten länger. Doch je nachdem, wer wen wie küsst, kann der Kuss ganz unterschiedliche Folgen haben.

Zwischen Kuss und Kuss können Welten liegen. „Ein Kuss ist ein oraler Körperkontakt mit einer Person oder einem Gegenstand.“ So nüchtern definiert Wikipedia die Geste, die zu den ausdrucksstärksten menschlichen Äußerungen gehört.

Doch in jüngster Zeit kommen Küsse immer häufiger ins Gerede – weil sie als männliche Machtdemonstration und sexueller Übergriff interpretiert werden. Vor wenigen Tagen sperrte der Welt-Fußballverband Fifa den früheren spanischen Verbandschef Luis Rubiales wegen des Kuss-Skandals bei der Frauen-Weltmeisterschaft für drei Jahre. Rubiales hatte die Spielerin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung nach dem gewonnenen WM-Finale auf den Mund geküsst. Der Kuss sei einvernehmlich geschehen, behauptete er. Hermoso sieht den Vorfall dagegen als sexuellen Übergriff.

Jetzt scheint auch Außenminister Annalena Baerbock (Grüne) Ziel einer diplomatischen Kuss-Attacke geworden zu sein. Kroatiens Medien berichteten am Freitag über einen „peinlichen Moment“ und ein „Fiasko“, das sich am Donnerstag beim Treffen europäischer Innen- und Außenminister in Berlin zugetragen habe. Auf Fotos ist zu sehen, wie der kroatische Außenminister Gordan Grlic-Radman (65) während der Aufnahme eines Gruppenfotos erfolglos versucht, Kollegin Annalena Baerbock (42) zu küssen.

Kommentare von ihr über den Vorfall sind nicht bekannt. Im Fall des spanischen Fußball-Funktionärs Rubiales hatte sich die Grünen-Politikerin deutlich zu Wort gemeldet: „Man muss sich nur mal vorstellen, Angela Merkel hätte 2014 Philipp Lahm so geküsst. Da wäre die Hölle los gewesen bzw. das ist einfach unvorstellbar und sagt damit alles“, erklärte sie Ende August. Die Sperre der Fifa sei mehr als richtig.

Rubiales, Baerbock – die Wissenschaft vom Küssen hat neues Anschauungsmaterial. Der Kuss ist in der Tat ein vielfältiger Forschungsgegenstand. Kultur-, Sprach- und Geschichtswissenschaft befassen sich damit ebenso wie Sozialwissenschaft, Psychologie und naturwissenschaftliche Fachgebiete. Es gibt sogar einen eigenen Fachbegriff für die Lehre vom Kuss: die Philematologie.

Küsse haben vielfältige Bedeutung: Es gibt den Friedenskuss, den Bruderkuss, den erotischen Kuss, den zärtlichen Elternkuss – aber auch den Handkuss und den per Hand zugeworfenen Luftkuss. Im Mittelalter hatte der Kuss auch rechtliche Bedeutung: Er besiegelte einen Vertrag – was sich noch heute im Verlobungs- oder Brautkuss widerspiegelt.

In den Religionen ist der Kuss ein Zeichen der Ehrerbietung: Im Islam küssen Pilger bei ihrer Mekka-Wallfahrt den Schwarzen Stein der Kaaba. In der katholischen Kirche gehören der Altar-Kuss und der Kuss auf das Evangelienbuch zum Gottesdienst. Wegen der starken Symbolik kann der Kuss aber auch Inbegriff des Verrats werden, etwa der Judas-Kuss.

Geküsst wird rund um den Globus. In Westeuropa und Nordamerika gilt es heutzutage meist nicht mehr als anstößig, sich öffentlich zu küssen. Die westliche Kusskultur des 20. Jahrhunderts ist stark vom Kino geprägt. Noch in den 1930er Jahren gab es in Hollywood einen Verhaltenskodex, der in Filmszenen „lustvolle Umarmungen“ und „ausgedehnte und wollüstige Kussszenen“ verbot. Später galten die Küsse zwischen Vivien Leigh und Clark Gable in „Vom Winde verweht“ oder von Deborah Kerr und Burt Lancaster in „Verdammt in alle Ewigkeit“ lange als erotischste Küsse aller Zeiten.

Küsse symbolisieren auch Verehrung, Freundschaft und Respekt. Der soziale Wange-an-Wange-Kuss sei in den letzten Jahren mit großem Erfolg aus Frankreich ins restliche Europa exportiert worden, schreibt die britische Soziologin Adrianne Blue in ihrem Buch „Vom Küssen oder Warum wir nicht voneinander lassen können“. Auch in anderen südlichen Ländern ist es üblich, Familienmitglieder und Freunde mit (angedeuteten) Küsschen auf die Wangen zu begrüßen.

Der Kuss kann aber auch ein Symbol der Herrschaft sein: Mit dem Fuß-Kuss verlangten Kaiser und Päpste Unterwerfung. Als der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow 1989 SED-Generalsekretär Erich Honecker zum 40. Geburtstag der DDR die Wange zur Begrüßung entgegenhielt, war der Machtkampf zwischen beiden längst entschieden.