Kronenwächter des versunkenen Reichs

Er war ein poetisches Junggenie. Als Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) im Herbst 1890 von dem Schriftsteller und Schauspieler Gustav Schwarzkopf ins Künstler-Café Griensteidl in Wien eingeführt wurde, konnten es die Jungwiener Dichter nicht fassen: Dieser 16-Jährige sollte „Loris“ sein? Der Verfasser formvollendeter Aufsätze und traumverloren lebensmüder Gedichte?

Tatsächlich war Hofmannsthal damals noch Schüler und schrieb daher nur unter Pseudonym über die Nichtigkeit des Lebens: „Kann denn das sein, daß nur so weit ich seh’/Das Leben aus der Welt gesogen ist?“ Das waren vertraute Töne für den Dichterzirkel der Wiener Moderne im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, dem Fin de Siècle. Beherrschend war die Kultivierung einer nervösen Romantik, einer „Mystik der Nerven“, wie der Schriftsteller Hermann Bahr es einmal umschrieb.

Die Literaten fühlten sich laut Hofmannsthal als „Kronenwächter des versunkenen Reichs“, der Donaumonarchie. Vor 150 Jahren, am 1. Februar 1874, wurde der Dichter in Wien geboren. Seine Vorfahren waren geadelte mährische Juden und österreichische Beamten. Hofmannsthal wurde katholisch getauft; schon der jüdische Großvater war konvertiert.

Zu seinen bekannten Werken zählt bis heute der „Jedermann“, eine Bearbeitung mittelalterlicher Mysterienspiele: Ein reicher Mann wird mit dem Tod konfrontiert. 1920 wurden mit diesem Stück – in der Inszenierung Max Reinhardts – die Salzburger Festspiele vor dem Dom eröffnet. Hofmannsthal war einer der Mitbegründer der Festspiele.

Auf Wunsch seines Vaters studierte er Jura, wechselte aber später zur französischen Philologie, promovierte in Philosophie. Hofmannsthal verkehrte unter französischen Impressionisten, lernte Rainer Maria Rilke kennen und 1899 den Komponisten Richard Strauss, der später zu seinem Arbeitspartner werden sollte.

Mit 17 Jahren begegnete Hofmannsthal dem Lyriker Stefan George, der ihn ästhetisch prägte. Ihm widmete er sein Jugendstück „Der Tod des Tizian“. Bald erschien auch „Der Tor und der Tod“. 1899 kam es zum Bruch mit George. Dieser kultivierte elitär-dekadente Lyrik, Hofmannsthal wollte sich ihm nicht unterwerfen, schrieb auch Dramen.

Wenig später versiegte seine lyrische Kreativität. Er geriet in eine Schaffenskrise, die er 1902 in „Ein Brief“, bekannt als fiktiver Brief an Lord Chandos, beschrieb: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Die „abstrakten Worte“ zerfielen ihm im Munde „wie modrige Pilze“.

Halt fand Hofmannsthal in seiner Familie. Er hatte 1901 Gertie Schlesinger geheiratet, drei Kinder wurden geboren: Christiane, Franz und Raimund. Hofmannsthal wechselte das Fach: vom lyrischen zum kunsttheoretischen und dramatischen Werk. Mit Strauss, dem Regisseur Max Reinhardt sowie dem Dramatiker und Allround-Genie Karl Gustav Vollmoeller eroberte er die Opernbühnen und schuf ein Theater für die Massen.

Seiner „Elektra“ von 1903 folgte 1909 die gleichnamige Oper von Strauss. Hofmannsthal wurde Librettist: 1911 wurde der „Rosenkavalier“ uraufgeführt, 1912 „Ariadne auf Naxos“, 1919 „Die Frau ohne Schatten“. Da war der Erste Weltkrieg schon vorbei, den der kränkelnde Landsturmoffizier im Kriegsfürsorgeamt des Innenministeriums abgedient hatte. „Das Salzburger Große Welttheater“ wurde uraufgeführt, auch die beiden Kammerspiele „Der Unbestechliche“ und „Der Schwierige“.

Die letzten Lebensjahre widmete der Dichter seinem mythischen Trauerspiel „Der Turm“. Zwei Tage nach dem Suizid seines Sohnes Franz starb Hofmannsthal am 15. Juli 1929 an einem Schlaganfall. Er ist auf dem Kalksburger Friedhof in Wien begraben.

In seiner Rede über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ hatte er 1927 eine „konservative Revolution“ angekündigt, „in einem Umfange, wie ihn die europäische Geschichte nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könnte“. Das wurde bald politisch missbraucht. Thomas Mann ärgerte sich noch 1955 in einem Brief: „In was für Mäuler das Wort von der Konservativen Revolution übergegangen ist.“

Die Wiener Essayistin und jüdische Emigrantin Hilde Spiel erkannte zwar die Fragwürdigkeit des Vortrags, bekannte sich aber zeitlebens zu dem jungen Hofmannsthal: „Das Herz ging mir auf bei der frühen Prosa des Loris. Seine Sprache war mir ein Vorbild in ihrer Reinheit und Farbigkeit. Nach London nahm ich 1936 die sieben Bände der ersten Stockholmer Gesamtausgabe mit.“

2022 ist die Kritische Werkausgabe Hofmannsthals in 42 Bänden bei S. Fischer erschienen. Herausgeberin Katja Kaluga und Olivia Varwig von der Hofmannsthal-Gesellschaft haben den Nachlassbestand im Freien Deutschen Hochstift (Frankfurter Goethe-Haus) erschlossen, er ist auch online zugänglich.