Koranschülern im Senegal fehlt es bis heute an Schutz

Jungs mit Blecheimern und Plastiktellern sind im Senegal überall zu sehen. Die Talibe, wie die Koranschüler heißen, bitten um Essen und Geld. So finanzieren sie ihren Lehrer, den Marabu, und ein traditionelles System.

Es ist früher Morgen in Saint Louis, einer Großstadt im Nordwesten Senegals kurz vor der Grenze zu Mauretanien. Die Sonne geht gerade auf, und in der Altstadt, die auf einer Insel liegt und seit 2000 zum Welterbe der Unesco gehört, rufen Muezzine zum Gebet. Auf den engen Straßen herrscht geschäftiges Treiben. Männer sind mit Koranen, Gebetsteppichen und Gebetsketten, die auf Wolof, der meistgesprochenen Sprache im Land, „kurus“ heißen, auf dem Weg zu ihrer Moschee.

Während Touba als die heilige Stadt der Muriden gilt, eine der großen und einflussreichen Bruderschaften im Senegal, ist Saint Louis für alle Glaubensgemeinschaften innerhalb des Islams ein zentraler religiöser Ort. Alle im Senegal verehrten Islamgelehrten, sogenannte Marabus, verbrachten Zeit in Saint Louis. Wer etwas auf sich hält, schickt auch heute seine Söhne hierher, damit sie den Koran auswendig, aber auch Disziplin und Gehorsam lernen. Es gibt mehr als 500 Koranschulen in der Stadt.

So ist auch Alagie Jallow, der aus dem Nachbarland Gambia stammt, nach Saint Louis gekommen. Mittlerweile ist es später Vormittag. Die Rufe zum Gebet sind längst verstummt, stattdessen ist Jallow von Kinderstimmen umgeben. Gerade hat der Krankenpfleger die Wunde eines jungen Mannes desinfiziert und verbunden. Er arbeitet im „Maison de la Gare“. Die gleichnamige nichtstaatliche Organisation hat die Einrichtung aufgebaut und bietet hier allen Talibe, wie die Koranschüler genannt werden, Schutz an, wenn sie in ihren Koranschulen vernachlässigt oder sogar misshandelt werden.

Sichtbar sind die Talibe überall im Land, sagt Pierre-Marie Coulibaly, der in der Hauptstadt Dakar die Organisation Enda Jeunesse Action leitet, ein Partner der Caritas. „Vor allem Ausländern fallen die Jungen auf, weil sie in den Straßen betteln.“ Ihre Eltern haben sie einem Marabu anvertraut, bei dem sie den Koran studieren sollen. „Einige unter ihnen nutzen die Kinder allerdings aus, um Geld mit ihnen zu machen.“

Den ganzen Tag über müssen sie auf den Straßen betteln. Es heißt, dass sie täglich umgerechnet zwischen 80 Cent und 1,50 Euro abgeben müssen. Allerdings schicken auch Eltern dem Marabu längst nicht regelmäßig Geld für Ausbildung und Verpflegung. Zahlen, wie viele Kinder landesweit betroffen sind, gibt es nicht. In Saint Louis wird von mehr als 15.000 Talibe gesprochen. 95 Prozent der Senegalesen bekennen sich zum Islam.

Menschenrechtsorganisationen haben in den vergangenen Jahren regelmäßig auf Missstände aufmerksam gemacht. Nach Einschätzung von Coulibaly halten kulturelle Gründe das System aber aufrecht: „Möglicherweise war der Vater selbst ein Talibe. Die Eltern kennen also das System und denken, dass es gut ist, wenn der Sohn sich dem Koran widmet. Innerhalb der Bildung ist im Senegal die religiöse Dimension sehr wichtig.“ Anders als einst leben viele Jungen heute allerdings bereits im Grundschulalter viele hundert Kilometer von ihren Eltern entfernt und sind auf sich allein gestellt. Auch verlieren sie die Bindung zu ihnen.

Wie alt der heute 26-jährige Alagie Jallow war, als er in Saint Louis ankam, weiß er nicht mehr. „Ein paar Familienmitglieder waren schon hier. Sie waren aber auch Talibe.“ Was er im Detail erlebt hat, darüber möchte er nicht sprechen. „Im Leben eines Talibe ist alles schwierig. Überall werden Kinder schlecht behandelt“, lautet seine Erfahrung. Schließlich hörte er vom „Maison de la Gare“. Er blickt über den sandigen Hof auf die Wasserstelle, wo ein paar Jungs ihre Kleidung waschen. Vor zehn Jahren gehörte er auch dazu. Hier konnte er sich um sich kümmern und zur Ruhe kommen. Dann ermöglichte die Organisation ihm eine Ausbildung und stellte ihn ein.

Das ist Teil des Konzepts. Neben sauberer Kleidung, einem Bett für ein bis zwei Nächte sowie einer Dusche gibt es Französischunterricht. Die Älteren erhalten das Angebot, eine Ausbildung zum Schneider oder in der Landwirtschaft zu machen. Denn in einer typischen Daara-Schule befassen sie sich zwar mit dem Koran, aber weder mit Französisch noch anderen Fächer. „Ziel ist es, dass sie wirtschaftlich unabhängig werden“, sagt Momar Mbaye, Direktor des Zentrums. Vielen bleibt sonst nur übrig, ebenfalls eine Koranschule zu gründen.

Trotz aller Erfahrungen besucht Alagie Jallow noch immer gerne eine Daara. „Heute bin ich aber von dem System unabhängig und kann dort andere Kinder unterstützen“, so der einstige Talibe. Er fordert: „Es muss endlich klare Regeln geben, wer eine Koranschule eröffnen darf.“