Königin ohne Königreich

Einst erklang die Orgel in den Synagogen der jüdischen Reformbewegung. Neue Synagogen verzichten dagegen auf die Königin der Instrumente. Doch jetzt könnte ein Comeback anstehen. von Michael Eberstein

Imposant: Andor Izsak präsentiert die frisch restaurierte Orgel der Villa Seligmann in Hannover (Archivbild)
Imposant: Andor Izsak präsentiert die frisch restaurierte Orgel der Villa Seligmann in Hannover (Archivbild)Jens Schulze / epd

Hannover. „Heben Sie das gut auf“, bat Nathan Saretzki den Sohn seiner Haushälterin, Hermann Baumeister. Gemeint waren die 16 Bände einer Notensammlung, die der Oberkantor der Frankfurter Hauptsynagoge vor den Flammen der Pogrome am 9. November 1938 hatte retten können. Saretzki wurde sechs Jahre später in Auschwitz ermordet, die Bücher überlebten. Baumeister und seine Mutter schafften sie unter Gefahr des eigenen Lebens nachts in die eigene Wohnung. Und noch einmal retteten sie sie vor den Flammen, als sie 1943 diese Wohnung wegen der Bombenangriffe aufgeben mussten.
Nach dem Krieg bemühte sich Baumeister, die Familie Saretzki ausfindig zu machen. Auch Nathan Saretzkis Sohn Edgar machte sich vergeblich auf die Suche. Ein Zeitungsartikel über das Referat Edgar Saretzkis über das Philanthropin, die Schule der israelitischen Gemeinde in Frankfurt, in der nach Zerstörung der Hauptsynagoge bis 1941 Gottesdienste („Weihestunden“) gefeiert wurden, führte schließlich 1997 die Bücher zu ihrer Besitzerfamilie zurück. Edgar Saretzki übergab die Notensammlung dem Europäischen Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) in Hannover. Seit 2012 sind sie in der Villa Seligmann, dem Sitz des Zentrums, und wurden unmittelbar nach der Eröffnung dort ausgestellt.

Für die Noten riskierte der Kantor sein Leben

Die Geschichte der Rettungs-Odyssee ist in kurzer Form jetzt in einem Buch nachzulesen, das von der Villa Seligmann herausgegeben wird. „Orgel ad libitum“, Orgel nach Belieben, rückt das Instrument, das vor allem in deutschen Reformsynagogen eingesetzt wurde, in den Mittelpunkt und nutzt dabei die Notenblätter, die Nathan Saretzki vor den Flammen rettete. Sie erschienen zwischen 1880 und 1933.
Die Autorinnen, Martha Stellmacher und Barbara Burghardt, vermuten, dass Saretzki in Eile die Bücher gegriffen habe, die er gerade benutzt habe. Professor Andor Izsak, langjähriger Direktor des EZJM, ist jedoch überzeugt, dass es die Noten gewesen seien, die dem Oberkantor besonders am Herzen lagen, sonst hätte er wohl nicht sein Leben riskiert.
Dankbar ist Izsak, dass auch die Psalmen-Vertonungen von Louis Lewandowski darunter sind. Der Komponist hatte sie 1879 „in tiefster Zuneigung“ dem bayrischen König Ludwig II. gewidmet. „Meine größte Entdeckung“, sagt Izsak, „ich bin glücklich, damit die Brücke zwischen Synagoge und evangelischer Kirche schlagen zu können.“

Einblick in Orgel-Literatur

Das Buch „Orgel ad libitum“ kann nicht auf solche Erinnerungen zurückgreifen, verschafft aber einen guten Einblick in die Orgel-Literatur, die vor rund 100 Jahren zumindest an hohen Festtagen in den großen Synagogen zu hören war. Denn: Die Orgel ist aus jüdischen Gotteshäusern verschwunden. In der Villa Seligmann ist eine der wenigen spielbaren Synagogenorgeln im Einsatz, restaurierungsfähige Orgeln gibt es allenfalls in Paris und Budapest, die einst von Franz Liszt und Camille Saint-Säens hoch gelobt wurden. Eine Orgel in Frankfurt werde nicht genutzt, bedauert Izsak. Neue Synagogen – auch liberaler Gemeinden – verzichteten auf die „Königin der Instrumente“.
So kann „Orgel ad libitum“  etwas dazu beitragen, dass die Orgel als Instrument in der Synagoge nicht in Vergessenheit gerät. „Ich werde es vermutlich nicht mehr erleben“, sagt der 71-jährige Izsak, „aber ich bin sicher, dass die Orgel wieder zurückkehrt.“ Sie sei Ausdruck eines erstarkten Selbstbewusstsein der Juden gewesen.
Das sei erstmals 1810 deutlich geworden, als Israel Jacobson in Seesen am Harz eine Synagoge eröffnete und sie „Tempel“ nannte. Diese Bezeichnung soll nach traditioneller jüdischer Lehre erst nach Rückkehr des Messias verwendet werden. Nun zeigte sie, dass diese Hoffnung ebenso wie die Rückkehr nach Jerusalem in den Hintergrund rückte. Dafür wurde die liturgische Musik wichtiger: Der Vorbeter wurde zum Kantor, die Gemeinde – Männer und Frauen gemeinsam – sang mit, oft begleitet von Chor und Orgel, Gebete wurden nicht mehr in Hebräisch vorgetragen, der Rabbiner trug einen Talar wie ein protestantischer Pfarrer.

Warum die Orgel zurückkehren wird

Izsak hat Verständnis dafür, dass nach der Shoah die jüdischen Gemeinden die Orgel nicht wieder aufgenommen hätten. „Der Abstand ist wohl noch zu gering“, vermutet er. Doch die Zeit heile Wunden. Die vielen jüdischen Einwanderer aus Osteuropa hätten zudem eher Bajan und Balalaika mitgebracht und etabliert. „Aber eines Tages wird das Judentum wieder so stark und etabliert sein, dass die Orgel in der Synagoge wieder Ausdruck unserer Kultur ist.“
Im Hamburger Michel etwa entstand vor Jahren eine bemerkenswerte Einspielung der „18 liturgischen Psalmen“ von Lewandowski mit Professor Dieker an der Orgel und Andor Izsak als Dirigent. Die Stücke müssten den Vergleich mit Arbeiten Schuberts oder Brahms nicht scheuen. „Im Psalm 84 hört man Brahms’ Deutsches Requiem“, sagt Izsak. Das sei abendländische Musik in Vollendung. Deshalb wiederholt auch Andor Izsak die Bitte des Kantors Saretzki: „Hebt das gut auf.“

Info

Martha Stell­macher / Barbara Burghardt: „Orgel ad libitum“
Herausgegeben vom Europäischen Zentrum für Jüdische Musik, 2015
96 Seiten, 16 Euro