Allein Knossos zieht heute fast eine Million Kreta-Touristen jährlich an. Nun hat es die Unesco zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt. Doch eigentlich schien es erst mal so recht nichts zu werden mit der Grabung.
Eigentlich hätte man sie doch längst dort vermutet. Doch erst an diesem Samstag hat die Weltkulturerbeorganisation Unesco Knossos und vier weitere minoische Stätten auf Kreta – Phaistos, Malia, Zakros und Kydonia – auf die Liste des Kulturerbes der Menschheit gesetzt. Über dreieinhalb Jahrtausende war die bronzezeitliche Hochkultur, die nach dem mythischen König Minos benannt wurde, verschüttet und beinahe vergessen. Seit Archäologen sie in ungezählten Grabungskampagnen ab dem 19. Jahrhundert zurück ans Licht holten, beflügeln sie wieder die Fantasie von Forschern – und Millionen Touristen.
Bei der weitaus bekanntesten Stätte, Knossos, stand die Erschließung zunächst auf der Kippe. Dem Deutschen Heinrich Schliemann (1822-1890) war die Sache schlicht zu teuer. Lieber grub der gefeierte Entdecker von Troja weiter an den Dardanellen im Nordwesten der heutigen Türkei, als hier auf Kreta eine Großbaustelle mit ungewissem Ausgang aufzumachen. Interesse hatte er schon, und er vermutete tatsächlich auch den legendären Palast des mythischen Königs Minos hier, irgendwo oberhalb der heutigen Inselhauptstadt Iraklio (Heraklion).
Aber der einheimische Kaufmann und Hobby-Archäologe Minos Kalokairinos, der 1878 zwei Magazinräume freigelegt und sich die Rechte an dem Grundstück gesichert hatte, wollte 100.000 Goldfranken dafür. Auch langes und hartes Feilschen bis hinunter auf 40.000 Goldfranken brachte keine Lösung. So schlug die Stunde eines anderen.
Der Brite Arthur Evans (1851-1941) griff zu. Der Museumsdirektor aus Oxford und glühende Verehrer von Schliemanns Troja-Entdeckungen glaubte an den Grabungsort Knossos und die bis dato noch sehr vereinzelten archäologischen Funde. Ab 1895 erwarb er nach und nach das Gelände. Und Ende März 1900, vor 125 Jahren, startete Evans seine Ausgrabungen; mit zunächst 30 und später bis zu 100 einheimischen Arbeitern.
Über die Jahre legten sie die Überreste einer mehr als 3.500 Jahre alten weitläufigen Palastanlage einer bronzezeitlichen Hochkultur frei. Evans sah darin den Stadtstaat Knossos und den Herrscher König Minos, wie sie bei Homer beschrieben wurden. Dazu gehörten Wohn- und Lagerhäuser, die teils durch Korridore und Treppen miteinander verbunden waren, die mutmaßlichen Gemächer von König und Königin sowie ein von Norden nach Süden ausgerichteter Zentralhof.
Ein großes Problem aus heutiger Sicht: Der Archäologe Evans vertraute – nicht allzu wissenschaftlich – stark auf seine eigene Interpretation und Fantasie. Nicht nur, dass er aus teils nur kleinen Fragmenten von Fresken ganze Bildwelten neu erschuf. Ähnlich verfuhr er auch mit den Gebäuden. Fand sich in einem Raum ein Stuhl aus Alabaster, so musste es sich um den “Thronsaal” handeln. Ein Komplex mit einem Trog waren ohne Zweifel die Baderäume; dabei könnte es sich auch um einen Sarkophag handeln, also um komplett andere Räumlichkeiten und Funktionen.
Nach und nach schuf Evans immer mehr aufgehendes Mauerwerk; in voller künstlerischer Freiheit, zunächst als Holzkonstruktionen, später mehr und mehr in Beton. Die Besucher haben somit eine Art minoisches Disneyland vor sich. Gut für sie, präsentiert sich das Gelände mit seinen “Rekonstruktionen” doch so spektakulär wie vermeintlich nachvollziehbar. Für heutige Forscher dagegen ist die Sicht auf den damaligen Befund verstellt; unmöglich, noch unabhängige Erkenntnisse über den ursprünglichen, tatsächlichen Palast zu erhalten.
Sicher zu unterscheiden sind die Epochen des alten Palastes, der wohl nach 2100 vor Christus entstand und etwa um 1700 durch ein Erdbeben zerstört wurde, sowie des neuen minoischen Palastes, der bis etwa 1450 vor Christus Bestand hatte und dann von den nachfolgenden mykenischen Griechen durch Feuer zerstört beziehungsweise überbaut wurde. Bald darauf endete auf ganz Kreta die minoische Hochkultur und damit auch die Bronzezeit.
Ein weiterer Malus der Anlage von Knossos ist die Trennung zwischen archäologischer Stätte und archäologischen Funden. Der Palast präsentiert sich, von einzelnen Repliken abgesehen, völlig leer. Die vielen, überaus prächtigen Funde liegen im Archäologischen Museum in Iraklio. Sie sind zweifellos unbedingt einen Besuch wert, dort allerdings ohne jeden Raumeindruck – Gegenstände des Alltags oder der Repräsentation, komplett aus ihrem Lebenszusammenhang gerissen.