Kirchenbänke raus, neues Leben rein
In der Tübinger Stiftskirche sind die Sitzbänke fest verankert. Und das wortwörtlich. Mindestens drei Helfer müssen zupacken, bis der letzte Dübel aufgibt, der eine jede Eichenholzbank an ihrem Platz hält. Vier Stunden vergehen, bis im Mittelschiff der gotischen Kirche ein großer Leerraum entsteht.
Dieser Leerraum ist namensgebend für ein fünfwöchiges Experiment: Vom 18. Oktober bis 24. November finden hier Tanzgruppen, Theater und sogar eine Disco Platz. Jeden Abend eine Veranstaltung, aber kaum Sitzgelegenheiten. „Wenn das Publikum nicht mehr komplett sitzen kann, dann wird es in Bewegung geraten“, sagt Andrea Bachmann, die den „Leerraum“ organisiert. „Dann werden die Leute etwa bei einem Konzert herumlaufen und gucken, von wo die Solistin am besten zu sehen ist.“
Nicht alle Gemeindemitglieder seien von dieser Veränderung begeistert, schließlich fehlen die Bänke auch während der Gottesdienste. Aber Kirchenbänke seien ohnehin erst ab der Reformation typisch, sagt Bachmann, weil die Predigten damals länger wurden. Zuvor standen, knieten oder gingen die Besucher im Kirchenraum. Heute wollen vielerorts Kirchengemeinden ihre Bänke gegen Stühle tauschen. Sie erhoffen sich so wieder mehr Flexibilität und Lebendigkeit in den Gotteshäusern.
Doch ein Umbau wirft neue Fragen auf. Zum Beispiel, was die Heizung angeht: Bei Sanierungen in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren wurden oft Kanäle verlegt, die unter den Kirchenbänken warme Luft verblasen. Wenn man dort jetzt die Bänke entfernt, bleiben lange Gitterreihen im Boden, die eine freie Bestuhlung schwierig machen. Neue Heizungen an den Wänden anzubringen, ist aber wiederum ein Problem für die alte Bausubstanz vieler Kirchen, die keine Temperaturschwankungen aushalten. Kirchenbänke raus, neues Leben rein? So einfach ist es nicht immer.
Draußen vor der Stiftskirche stapeln Helfer die Kirchenbänke mithilfe eines Radladers aufeinander. Einer der Helfer heißt Thomas Erne und ist sozusagen vom Fach. Bis 2022 hat er das Institut für Kirchenbau der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geleitet. „Wenn die Kirche ihre Gebäude behalten möchte, muss sie Bündnisse mit der Zivilgesellschaft schließen“, sagt Erne.
Für diese Herausforderung sei das „Leerraum-Projekt“ ein spannender Fall, meint er. „Bisher ist die Stiftskirche eine Predigthörer-Kirche“, jetzt könne sie der Stadt ihren gesellschaftlichen Wert zeigen. Als Beispiel nennt Erne die geplanten Aufführungen. Auch eine säkulare Tänzerin könne vom „Transzendenz-Bewusstsein“ profitieren, das die Kirche erzeuge.
In fünf Jahren steht der Stiftskirche eine große Renovierung bevor. „Wenn wir die planen, dann für die Bedürfnisse unserer Enkelkinder“, sagt Andrea Bachmann. Ob man dann weiter auf Sitzbänke setzen werde, sei nur eine von vielen offenen Fragen. Umso mehr hofft Bachmann darauf, dass die kommenden Wochen einen neuen Blick auf Tübingens größte Kirche ermöglichen. (2329/16.10.2024)