Kirchenasyl: Ein starkes Stück Verkündigung

Wenn sich Stefan Baier an die Zeit erinnert, als bei ihm im Pfarrhaus eine Familie im Kirchenasyl gelebt hat, hat er gemischte Gefühle. Aber das Kirchenasyl von damals wurde eine Erfolgsgeschichte.

Kirchenasyl hat nur dann eine Chance, wenn alle an einem Strang ziehen
Kirchenasyl hat nur dann eine Chance, wenn alle an einem Strang ziehenepd-bild / Hans-Jürgen Bauer

Die Familie stammte ursprünglich aus Vietnam. Über Moskau war sie vor vielen Jahren geflohen, lebte lange in Russland, kam dann nach Deutschland. Die Kinder gingen hier zur Schule, waren hervorragend integriert. Nun sollte die Familie abgeschoben werden. Vietnamesisch sprach keines der Kinder, für sie war Deutschland Heimat. „Unser Sohn ging mit dem ältesten Sohn der Familie zusammen zur Schule“, erinnert sich Pastor Stefan Baier. Anfang der 2000er Jahre war das.

In der Zeitung hatten seine Frau Kerstin und er von der Familie erfahren. Der Direktor der Schule hatte von der Situation der Familie gehört und sie öffentlich gemacht. „Von ihm kam die Initialzündung“, berichtet Stefan Baier. Es bildete sich eine, wie er sagt, „unheilige Allianz“ aus dem Direktor des Gymnasiums, einem katholischen Priester, dem Pfarrehepaar Baier und der Gemeinde, einer Amtsärztin und einem ehemaligen Professor für Staat und Recht. „Wir waren ein sehr illustrer Haufen, jeder half auf seine Weise mit seinen Kontakten und gemeinsam haben wir alles drangesetzt, die Familie im Land zu behalten. Mit Erfolg, wie sich zeigte.“

Unten wohnte die Flüchtlingsfamilie

Stolz klingt in Stefan Baiers Stimme mit und auch etwas Unglaube darüber, dass es tatsächlich geklappt hat. Er war zu der Zeit mit einer halben Stelle Gemeindepastor in Neuendorf bei Brück in Brandenburg und mit einer halben Stelle in der Krankenhausseelsorge. Seit 2007 ist der 62-Jährige nicht mehr Gemeindepfarrer, sondern zu 50 Prozent Notfallseelsorger. Mit seiner Frau und den drei Kindern lebte Stefan Baier im Pfarrhaus in Neuendorf, dreieinhalb Jahre gemeinsam mit der vietnamesischen Familie unter einem Dach. Die Kinder beider Familien hatten ein ähnliches Alter, sodass sie viel gemeinsam im großen Pfarrgarten spielen konnten. Der obere Teil des Pfarrhauses blieb größtenteils privat, unten in einem der Gemeinderäume spielte das ganz normale Gemeindeleben und in dem anderen lebte die Familie.

„Ich musste das natürlich erst an den Kirchengemeinderat herantragen“, erinnert sich Stefan Baier. Auch wenn nicht alle begeistert waren, stellte sich der Rat geschlossen hinter die Aktion. „Obwohl man dort nur selten einer Meinung war, waren sich alle einig, dass man als ordentlicher Christenmensch so etwas macht“, so Baier. Natürlich habe es viele Fragen gegeben, zum Beispiel, ob man als Gemeinde etwas Ungesetzliches tue, wenn man Kirchenasyl gewährt. „Ich habe die Mitglieder an zivilen Ungehorsam erinnert. Im Sinne der Sache kann man Spielräume finden, die sind immer da, man muss sie nur suchen.“

Dreieinhalb Jahre blieb die vietnamesische Familie in der Gemeinde

Kirchenkreis, Landeskirche – alle wurden vorher informiert und involviert. „Ich war auch beim Bischof, habe mit ihm gesprochen und er hat mich aufgefordert, mich mit anderen zu vernetzen, die ebenfalls Kirchenasyl angeboten haben“, sagt Baier. Von den Kollegen, die er dabei kennengelernt hat, hat er später in der Notfallseelsorge einige wieder getroffen. „Vielleicht erfordert beides einen bestimmten Schlag Menschen“, meint er.

Dreieinhalb Jahre blieb die vietnamesische Familie in der Gemeinde. Dreieinhalb Jahre, in denen Stefan Baier ständig zur Ausländer­behörde musste. „Ich habe da sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht – von freundlich bis ausländerfeindlich. Ich kenne mich da heute noch im Schlaf aus“, meint er. Die Familie wurde nie vor dem Staat versteckt. Es sei immer klar gewesen, wo sie ist. „Aber wir haben uns klar positioniert, auch meine Frau, die damals in der Kommunalpolitik tätig war.“

Es ging darum, das Richtige zu tun

Die fremde Familie im Haus, das sei eine besondere Herausforderung gewesen, die kulturellen Unterschiede waren spürbar. Vor allem die fast schon aufdringlich anmutende Dankbarkeit des Familienvaters hat Stefan Baier oft gestört, zumal er gar keine Dankbarkeit wollte. Es sei ihm nur darum gegangen, das Richtige zu tun. „Es war eine Einschränkung, aber auch eine unglaubliche Horizonterweiterung. Vor allem auch für unsere Kinder, die so Solidarität, länder­übergreifend und über den eigenen Tellerrand hinaus, erlebt haben.“

Es sei eine Zeit mit vielen Zweifeln und viel Zittern gewesen. „Ständig haben wir gedacht, das scheitert hier“, so Stefan Baier. „Wir haben oft gezweifelt, ob das alles richtig ist, ob es vielleicht doch Alternativen gibt.“ Solange man in der akuten Situation war, sei das Adrenalin hoch gewesen, „da haben wir immer einen Weg gefunden“. Erst als alles geklärt war, da seien alle dann etwas zusammengeklappt.

Gemeinde war stolz auf „ihr“ Kirchenasyl

Dass es doch funktioniert hat, liegt für Stefan Baier an der illustren Runde, die half. „Unsere Beharrlichkeit und unsere Ressourcenvielfalt – und eine entnervte Ausländerbehörde – haben dazu geführt, dass wir es am Ende geschafft haben“, betont Baier. Bis auf die Dauergäste hat das Kirchen­asyl das Gemeindeleben nicht weiter verändert. Doch stolz waren am Ende alle, dass „ihr“ Kirchenasyl zu einer Erfolgsgeschichte wurde und die Familie bleiben konnte.

Wie sehr sie mit ihrem Kirchen­asyl der Familie, gerade den Kindern geholfen haben, wurde Stefan Baier einige Jahre später noch einmal klar. Als der älteste Sohn, der zu Beginn des Kirchenasyls 16 Jahre alt war, heiratete, lud er die gesamte Familie Baier ein. „Unsere Kinder waren stellvertretend für uns da und wurden vor 350 Hochzeitsgästen auf die Bühne geholt. Der Bräutigam hat ihnen gedankt und betont, dass es ohne unsere Familie keine Hochzeit geben würde. Das war schon wirklich sehr bewegend.“

Solidarität leben und teilen

Für Stefan Baier war die vietnamesische Familie nicht die erste Begegnung mit Kirchenasyl, schon Jahre vorher verhalf er mehreren bosnischen Flüchtlingen zu einem Obdach, wenn auch nicht im eigenen Pfarrhaus. Ob er es wieder machen würde? „Jetzt dürfen es gern andere machen. Aber, wenn mir wieder so eine Situation vor die Füße fallen würde, dann klar, würde ich es wieder machen.“

In vier Jahren will Stefan Baier in Rente gehen. Schon jetzt ziehe er manchmal eine Art Arbeits­bilanz und auch durch das Kirchen­asyl habe er das Gefühl, „da habe ich etwas auf der Habenseite“, meint Baier. „Das war ein Punkt, an dem habe ich alles richtig gemacht. Das ist Teil meiner Lebenszufriedenheit“, betont der Pastor. „Diese Solidarität zu leben und zu teilen, das war ein starkes Stück Verkündigung.“