Killer in gut geschnittenen Anzügen

Worüber reden Berufskiller auf dem Weg zur Arbeit? Über Fußmassagen, Fernsehserien und McDonald’s. In Quentin Tarantinos Film „Pulp Fiction“ verrät der von John Travolta gespielte Vincent seinem Kollegen Jules (Samuel L. Jackson), was sie in Holland anstatt Ketchup auf die Pommes tun: Mayonnaise. „Hab ich selbst gesehen, Mann, die ersäufen die in der Tunke.“ Jules: „Verdammt!“

Der Film, der am 21. Mai 1994 in Cannes Premiere feierte und die Goldene Palme des Festivals gewann, machte den fast vergessenen Travolta wieder zu einem Superstar, eroberte die Kinosäle auf der ganzen Welt und beeinflusste die Popkultur. Film, Mode (schwarze, gut geschnittene Anzüge) und Musik gerieten unter den Einfluss Tarantinos. Retro-Sounds erlebten eine neue Blütezeit.

„Pulp Fiction“ ist eine blutrote, aber faszinierende Hommage an den „Film noir“, an Gangstergeschichten und Groschenhefte der 1950er-Jahre. Der Einfluss von Regie-Legende Jean-Luc Godard ist ebenso spürbar wie der von „Warten auf Godot“. Vincent und Jules erscheinen wie Nachfahren von Samuel Becketts Theaterfiguren Wladimir und Estragon. „Ich klaue von jedem, große Künstler klauen immer“, stellte Tarantino, der einige Jahre in einem Videoverleih gearbeitet hatte, fest.

Killer Jules kennt sich aus im Buch der Bücher. Mit dröhnenden Worten macht er den Jungen, die seinen Boss bestohlen haben, Angst. Erst recht, als er ihnen mit alttestamentarischem Nachdruck, Ezechiel 25:17 mehr improvisierend als akkurat zitierend, die Strafe für ihr Verhalten ankündigt: „Ich will bittere Rache an denen üben, die da versuchen, meine Brüder zu vernichten, und sie mit Grimm strafen, dass sie erfahren sollen, dass ich der Herr bin, wenn ich Vergeltung an ihnen übe.“ Danach schießen er und Vincent ihre Magazine leer.

Mit der Souveränität des altmeisterlichen US-Filmemachers Robert Altman und dem Furor des jungen Martin Scorsese inszenierte Tarantino Kurzgeschichten aus der Unterwelt von Los Angeles: zwei Tage im Leben von Killern, Gangsterbossen, abgetakelten Boxern und abgedrehten Drogendealern. Wie in Altmans „Short Cuts“ 1993 springt auch in „Pulp Fiction“ die Handlung in Raum und Zeit hin und her, kreuzen sich Wege und Schicksale einander unbekannter Menschen.

Tarantino erschafft eine Welt, die stets von Gewalt bedroht ist, die keine Sicherheit vorgaukelt. Auch dem Zuschauer nicht. Wenn er glaubt, sich zurechtzufinden, schlägt der Plot wie ein Hase unerwartete Haken.

Das Ensemble ist, wie der Soundtrack, handverlesen. Bruce Willis brilliert als Boxer Butch als Mann mit tödlichen Fäusten, einem kühnen Überlebensplan und überraschender Empathie. Uma Thurman tanzt als Gangster-Ehefrau Mia Wallace mit Travolta zu Chuck Berrys „You Never Can Tell“ einen suggestiven Twist: Tarantinos Hommage an Travoltas „Saturday Night Fever“ von 1977. Harvey Keitel verkörpert den gnadenlos effizient arbeitenden Tatort-Reiniger Winston Wolf. Christopher Walken als Vietnamveteran erzählt in einem surrealen Monolog die abenteuerliche Geschichte einer Uhr.

Die Motive und die Dialoge des Films gewannen schnell Kultcharakter. Der Rowohlt Verlag veröffentlichte 1994 sogar eine deutsche Fassung des mit einem Oscar ausgezeichneten Drehbuchs. Coolness verbindet sich in Tarantinos Skript auf fabelhafte Weise mit komischen Effekten, Witz, poetischen Tupfern und Unterwelt-Philosophie. All das ist bei ihm allerdings nie ohne bisweilen Gewalt, Grauen und Obszönität zu haben. Und praktisch nie ohne Machogerede.

Nach dem Erfolg von „Pulp Fiction“ brach ein regelrechtes Gangster-Fieber aus. 1995 wandelte Gary Fleder mit „Das Leben nach dem Tod in Denver“ auf den Spuren seines Kollegen Tarantino. Im selben Jahr brachte Barry Sonnenfeld „Schnappt Shorty“ ins Kino, mit Travolta als Kredithai Chili Palmer. Ebenfalls 1995 spiegelte „Palookaville“ von Alan Taylor seine Verwandtschaft mit „Pulp Fiction“.

Das Tarantino-Fieber übertrug sich auch auf Europa. Der Brite Guy Ritchie bewegte sich dankbar und ungeniert auf dem von Tarantino gelegten Fundament. Ritchie debütierte 1998 mit „Bube, Dame, König, grAS“ und legte zwei Jahre später mit „Snatch – Schweine und Diamanten“ nach. 1999 entstand Steven Soderberghs an Tarantinos Erzählstruktur erinnernder Film „The Limey“. 2004 drehte Matthew Vaughan „Layer Cake“ mit Daniel Craig. Die Einfluss-Liste ist endlos. Auch die Serien-Kultur verdankt „Pulp Fiction“ wertvolle Anregungen. Die DNA des Films ist in „Die Sopranos“ von David Chase und „Breaking Bad“ von Vince Gilligan nachweisbar.