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KI in der Medizin: Neues Modell sagt Krankheiten voraus

Europäische Wissenschaftler haben eine KI entwickelt, die Krankheiten über Jahre prognostizieren kann. Ein Meilenstein für die Medizin. Doch es gibt auch Risiken.

Künstliche Intelligenz wird den medizinischen Alltag revolutionieren. Und das nicht nur beim Schreiben von Arztbriefen oder bei der Interpretation von Röntgenbildern. Was möglich ist, zeigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) und des Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg: In der Fachzeitschrift “Nature” (Mittwoch) stellten sie ein KI-Modell vor, das vorhersagen können soll, wie hoch das Risiko für über 1.000 Erkrankungen bei einzelnen Personen sowie in gesellschaftlichen Gruppen ist.

Das Modell mit dem Namen Delphi-2M, das auf anonymisierten medizinischen Daten von mehr als zwei Millionen Menschen aus Großbritannien und Dänemark trainiert wurde, könne Gesundheitsereignisse für eine Zeitspanne von über einem Jahrzehnt prognostizieren, teilten die Wissenschaftler in Heidelberg mit. Zwar ist der klinische Einsatz noch Zukunftsmusik, doch schon jetzt eröffne das KI-Modell neue Möglichkeiten, um Gesundheitsstrategien zu entwickeln.

“Medizinische Ereignisse folgen oft vorhersehbaren Mustern”, erläuterte Tom Fitzgerald vom EMBL. “Unser KI-Modell lernt diese Muster und kann zukünftige Gesundheitsergebnisse prognostizieren. Es gibt uns die Möglichkeit, auf der Grundlage der Krankengeschichte einer Person und anderer wichtiger Faktoren zu untersuchen, was passieren könnte.” Besonders wichtig: Dabei handele es sich nicht um eine Gewissheit, sondern – ähnlich wie bei Wettervorhersagen – um eine Prognose und eine Einschätzung der potenziellen Risiken.

“So wie große Sprachmodelle aus der Abfolge von Wörtern in Texten die Grammatik unserer Sprache lernen können, lernt dieses KI-Modell die Logik der zeitlichen Abfolge von Ereignissen in Gesundheitsdaten, um ganze Krankengeschichten zu modellieren”, erklärt Moritz Gerstung vom DKFZ. Einbezogen würden medizinische Diagnosen oder auch Lebensstilfaktoren wie Body Mass Index, Geschlecht und Alkohol- und Nikotinkonsum.

“Das ist der Beginn einer neuen Art, die menschliche Gesundheit und den Verlauf von Krankheiten zu verstehen”, sagte Gerstung. Das Modell eignet sich nach Angaben der Wissenschaftler insbesondere für Erkrankungen mit einheitlichen Verlaufsmustern wie Diabetes, Herzinfarkt oder Sepsis. Bei Infektionskrankheiten, die von unvorhersehbaren Lebensereignissen abhängen, ist es jedoch weniger zuverlässig.

Deutsche Ärzte und Wissenschaftler, die an der Entwicklung der KI nicht beteiligt waren, zeigten sich in ersten Reaktionen beeindruckt, wiesen aber auch auf ethische Probleme hin. “Der potenzielle Nutzen für Patientinnen und Patienten wie auch für das Gesundheitssystem ist enorm. Wie bei jedem technologischem Fortschritt stellen sich dabei nicht nur technische, sondern auch ethische Fragen”, sagte Markus Herrmann, Leiter des Bereichs KI-Ethik am Institut für Medizin- und Datenethik, an der Uni Heidelberg, dem Science Media Center (SMC) in Köln.

So könnten Prognosen über den Gesundheitszustand einzelner Menschen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen dazu führen, dass es zu Nachteilen für die Betroffenen bei Versicherungen, der Berechnung ihrer Kreditwürdigkeit oder gegenüber Arbeitgebern kommen könnte.

Herrmann und der Potsdamer Gesundheitswissenschaftler Robert Ranisch wiesen zugleich darauf hin, dass die KI bei medizinischen Entscheidungen nur ein ergänzender Baustein für das ärztliche Urteil sein dürfe. Auch müsse der Patient über den Einsatz der Technologie aufgeklärt werden und einer Risikobewertung vorab zustimmen, betonte Herrmann. “Ethisch wie auch juristisch hat der Mensch ein Recht auf Nicht-Wissen – ein Recht darauf, sein Leben nicht in Sorge oder gar Angst vor drohender Krankheit zu führen.”

Ranisch betonte: “Für Patienten muss klar sein: Solche Prognosen sind keine Schicksalsurteile.” Zudem sei dabei wichtig, dass der Einsatz solcher Modelle den Entscheidungsspielraum der Patienten nicht einenge. “Ihre Autonomie im Jetzt darf nicht einem Behandlungsregime untergeordnet werden, das allein auf zukünftige Gesundheit ausgerichtet ist.”

Kritisch äußerte sich auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz: “Die Herausforderung beginnt für die Menschen, wenn negative Prognosen bekannt werden. Diese Dilemmata kann KI nicht lösen. Dazu braucht es Menschen, die helfen, einordnen und stützen”, sagte Vorstand Eugen Brysch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Für kommerzielle Anbieter, vielleicht sogar Versicherungen, werden KI-Modelle immer interessanter. Es wird nicht mehr Selbstbestimmung geben, sondern viel weniger.”