Keiner weiß, was „Zeit“ ist

Jetzt wird wieder an der Uhr gedreht. Die Winterzeit geht zu Ende und abends wird es fortan später dunkel. Doch diese zur Gewohnheit gewordene „Zeitumstellung“ kaschiert, dass niemand sagen kann, was „Zeit“ ist

Die Uhren werden umgestellt – die Zeit nicht. Sie fließt weiter, sie zerrinnt, sie vergeht, sie erstreckt und bemisst sich. Philosophen, Theologen und Wissenschaftler zerbrechen sich seit Jahrtausenden die Köpfe darüber, was Zeit ist. Und die Antworten sind oft sehr abstrakt: Zeit sei eine Kette von Ereignissen, die Abfolge von Ursache und Wirkung, heißt es. Oder der permanente Übergang der Vergangenheit in der kurzen Gegenwart auf die Zukunft hin. Doch all diese Beschreibungen klären nicht, was „Zeit“ eigentlich für jeden bedeutet.
In den monotheistischen Religionen ist es Gott als Schöpfer, der Herr über Zeit und Raum ist. „Meine Zeit steht in deinen Händen“, heißt es im 31. Psalm des Alten Testamentes, gemeint ist die Lebenszeit. Für die meisten Kosmologen entstanden Raum und Zeit mit dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren. Dabei weist der „Zeitpfeil“ immer nach vorn – eine rückwärts laufende Zeit oder eine Zeitreise gibt es nur in Gedankenexperimenten.

Zeit wird fassbar durch Erfindung der Uhr

Fassbar wurde die fortlaufende Zeit, wie wir sie heute verstehen, für viele Europäer erst, als im ausgehenden Mittelalter die mechanischen Uhren erfunden wurden. Fortan war die Zeit genau in Sekunden, Minuten und Stunden eingeteilt, sie war messbar. 60 Sekunden ticken pro Minute, 86 400 pro Tag.
Für den deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) war die Zeit – neben dem Raum – eine „Grundkategorie“ allen Seins. Ohne räumlich-zeitliche Vorstellungen könne der Mensch überhaupt nicht existieren, argumentierte er. Alle Vorgänge zwischen Geburt und Tod verlangen nach der Vorstellung von Raum und Zeit. Als Albert Einstein (1879-1955) seine Relativitätstheorie veröffentlichte, wurde alles erheblich komplizierter. Die Zeit wurde zur vierten Dimension. An schweren Massen („Schwarzen Löchern“) konnte sie sogar stillstehen und quasi eingefroren zur Ewigkeit werden. Auch die vermeintliche „Gleichzeitigkeit“ von Ereignissen wurde zum Problem: Denn niemand kann je überprüfen, was „jetzt und heute“ zum Beispiel auf der weit entfernten Andromeda-Galaxie passiert – weil selbst lichtschnelle Nachrichtensignale von dort rund zwei Millionen Jahre unterwegs wären.

Jahreszeiten haben ihre festen Plätze im Kalender

Auf der Erde sind die unterschiedlichen Zeitzonen nicht zuletzt durch das Internet bewusster geworden: Globale Feierlichkeiten wie Silvester gehen 24 Stunden lang durchs Netz – weil sich die Erde dem Datumswechsel langsam entgegendreht und überall örtlich zeitversetzt gefeiert wird.
Auf die Jahreszeiten hat die Epoche des Internet dagegen kaum einen Einfluss. Frühling, Sommer, Herbst und Winter orientieren sich allein am Umlauf der Erde um die Sonne sowie an der Schrägstellung der Erdachse. Die Jahreszeiten haben ihre festen, althergebrachten Plätze im Kalender – auf der Südhalbkugel ist es umgekehrt.
Das individuelle Leben allerdings bemisst sich zumeist nicht nach astronomischen, philosophischen oder wissenschaftlich spekulativen Kriterien. Lebenszeit, Arbeitszeit, Urlaubszeit oder Freizeit orientieren sich weitgehend an althergebrachten Zeit-Definitionen und Traditionen. Theoretisch mag es möglich sein, die Zeit auch umzukehren. Und vielen wissenschaftlichen Formeln ist der bloße Zeitfaktor egal: Sie würden auch dann stimmen, wenn die Zeit rückwärts läuft. Aber man hat wohl nie eine zerbrochene Tasse gesehen, die sich selber wieder repariert, indem sie heil auf den Tisch zurückspringt.