Keiner soll mehr betteln müssen

Ein monatliches Festgeld soll Armut in jeder Form verhindern. Königsweg oder Irrweg? Was steckt hinter den Reformmodellen? Was leisten sie, was nicht? Wo sind ihre Grenzen?

© epd-bild / Alexander Stein

Im Idealbild schultert in einer Großfamilie die mittlere Generation der Eltern die wirtschaftliche Verantwortung sowohl für die heranwachsende als auch für die Großeltern-Generation. Dieses als „Generationenvertrag“ auf die Gesamtgesellschaft übertragene Bild prägt bis heute unser wesentlich solidarisch beitragsfinanziertes Sozialsystem. Doch vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft fehlt es auf dieser Basis bisher an befriedigenden Antworten auf die sich immer drängender stellende Armutsfrage.

Sechs Entwürfe, darunter zwei radikale

Dazu zwei Anmerkungen:
1. Das nach dem Motto „Fördern und Fordern“ 2005 geknüpfte Hartz-IV-Netz mag in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gehalten haben: Damals vor der Arbeitsmarktreform galt Deutschland mit am Ende über fünf Millionen Arbeitslosen als Europas „kranker Mann“. Durch die Reform hat sich deren Zahl bis heute halbiert. Der Preis: Viele, die in der Statistik nicht mehr auftauchen, sind im Niedriglohnsektor tätig, geringfügig beschäftigt und auf zusätzliche staatliche Hilfeleistung angewiesen, um halbwegs über die Runden zu kommen: etwa jeder fünfte Beschäftigte. Die Reform hat Löcher gerissen, durch die immer mehr Menschen fallen. Dauerhaft. Folge: Armut, auch Kinderarmut, verfestigt sich.

2. Brüchig geworden ist zudem unser an der Lebenserwerbsleistung orientiertes Rentensystem – und das gilt auch für Altersbezüge über das hinaus, was sich „Grundsicherung“ nennt. Indizien dafür sind die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und das gesunkene Rentenniveau. Folge: Altersarmut wächst.
Ist das viel diskutierte feste Grundeinkommen (GE) der Königsweg in eine Zukunft ohne Armut? Oder wenigstens ohne ihre bedenklichsten Ausformungen? – Sechs der gängigsten Modelle, die gegenwärtig erörtert werden, seien hier in gebotener Kürze vorgestellt:
1. 1000 Euro jeden Monat für jede und jeden, egal wie alt, ohne jede Auflage. Damit werben der Gründer der Drogeriemarktkette „dm“ Götz Werner und die ehemalige Berliner Kultur- und Wissenschaftssenatorin Adrienne Goehler für ihre Idee eines vorgeblich existenzsichernden bedingungslosen GE. In dem radikalen Entwurf sind im Prinzip alle Sozialleistungen und -abgaben „alter“ Form abgeschafft, ebenso die meisten Steuerarten. Einzig verbleibende Einnahmequelle des Staates ist die auf 50 Prozent bezifferte Mehrwertsteuer, die auf alle Produkte und Konsumgüter zu erheben ist. Ausschließlich daraus sind sämtliche staatlichen Leistungen, einschließlich aller sozialen, zu finanzieren.
Damit die Wirtschaft dauerbrummt, ist der Arbeitsmarkt von Fesseln wie Mindestlohn zu befreien. Denn wenn die Konjunktur abflaut, folglich weniger produziert und konsumiert wird, schlägt das unmittelbar negativ durch auf den Staatshaushalt. Und – das ist der Fallstrick dieses Modells – damit steht dann auch die Finanzierung des GE auf der Kippe.
Fazit: Wirtschaftsliberalismus. Ungezügelt. Mit allen Risiken.

2. Nicht minder radikal ist der Gegenentwurf „Emanzipatorisches Grundeinkommen“ der Linkspartei. Ausnahmslos jede/r Erwachsene erhält 1076 Euro und jedes Kind bis zum 16. Lebensjahr 538 Euro existenzsichernd monatlich als bedingungsloses GE. Wesentlich finanziert wird das durch eine 33,5-Prozent-Steuer auf Erwerbsarbeit, Einkommen und Vermögen („Bruttoprimäreinkommen“ im Fachjargon) und eine 1,5-Prozent-Steuer auf Sachkapital wie Anlagevermögen und Immobilien.
Weg fallen praktisch alle steuerlichen Freibeträge und Absetzmöglichkeiten (Ehegattensplitting eingeschlossen). Weg fallen auch alle bisher bekannten Sozialleistungen wie Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitslose oder BAföG. Sie finden sich wesentlich eingebettet im bedingungslosen GE. Im Kern zielt der Entwurf mit seiner Umverteilung von Erwirtschaftetem und Vermögen auf einen grundlegenden Umbau der Gesellschaft.
Fazit: Wer hat, dem wird (tendenziell auch mehr) genommen.

3. Eingeschränkt auf Bedürftige ist das FDP-Konzept „Liberales Bürgergeld“, das sich am soziokulturellen Existenzminimum orientiert und darin bisherige Sozialleistungen wie Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld (ALG) II (= Hartz IV) und BAföG bündelt. Dazu kommt zur privaten Absicherung je eine Pauschale für Kranken- und Pflegeversicherung und gegebenenfalls Kindergeld und Gesundheitsprämie für Kinder. Gemäß dem Prinzip, Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken, drohen Kürzungen des Bürgergelds bei Ablehnung zumutbarer Arbeit. Gestaffelte Freibetragsgrenzen für Zuverdienste sollen anreizen, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Ein Mindestlohn wird abgelehnt, die Öffnung der Tarifverträge angestrebt. In Form eines Kombilohns soll das Bürgergeld das Angebot im Niedriglohnsektor vergrößern.
Fazit: Wirtschaftlichen Interessen wird mehr Raum gegeben, Daseinsvorsorge deutlich mehr als heute in private Hand gelegt.

4. Der Sozialwissenschaftler Michael Opielka, einst sozialpolitischer Ideengeber der Grünen, schränkt sein Modell eines existenzsichernden Monats-GE von 640 bis maximal 1536 Euro – die „Grundeinkommensversicherung“ – ein auf Rentner, Erwerbsunfähige, Arbeitslose und diejenigen in Ausbildung. Es bündelt bisherige Leistungen von Rentenversicherung, Arbeitslosenunterstützung, Kinder- und Erziehungsgeld sowie BAföG. Kinder (bei Bedürftigkeit) erhalten die Hälfte, Arbeitslose bekommen es bei Ablehnung zumutbarer Arbeit nur als  Kredit.
Jede/r zahlt in das bestehende Sozialversicherungssystem ein.  Dabei werden auch Vermögen und andere Einkünfte einbezogen. Es ist so hinsichtlich seines Finanzvolumens weitestgehend entkoppelt von der Abhängigkeit von Erwerbsarbeit. Beiträge aus Erwerbsarbeit zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sind allein von Arbeitnehmerseite zu entrichten. Die Arbeitgeberseite ist paritätisch nur noch beteiligt an Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung.
Fazit: Erkennbares Bestreben, das bestehende Sozialsystem zukunftsfest zu reformieren. Das  Grundprinzip der Solidargemeinschaft tritt aber sehr zurück, auch wenn der Kreis der Beitragszahler auf alle ausgeweitet ist.

5. Nicht von vornherein auf Existenzsicherung bedacht und eben darum als „additives“ GE bezeichnet ist das Modell „Solidarisches Bürgergeld“ des früheren thüringischen CDU-Ministerpräsidenten Dieter Althaus. Jede/r erhält monatlich 600 Euro, und das, anders als die Hartz-IV-Regelung heute, ungeschmälert von Zuverdiensten – als Anreiz, zusätzliche Einkünfte durch Erwerbsarbeit zu erzielen. Vom GE abgezogen wird eine 200-Euro-Gesundheitspauschale. Wem das nicht genügt, muss darüber hinaus privat vorsorgen. Zuschläge sind nur bei sozialer Bedürftigkeit vorgesehen.
Im Gegenzug werden Hartz IV und Elterngeld abgeschafft. Obsolet, weil ins GE eingebunden, sind auch Kindergeld und -freibetrag. Entlastung  auf Arbeitnehmerseite bringt der Wegfall der Beiträge zur Sozialversicherung. Das wiederum entlastet Arbeitgeber, deren Lohnnebenkosten sich damit halbieren.
Erhalten bleiben gesetzliche Rentenversicherung, private Altersvorsorge und Betriebsrenten. Das Bürgergeld erhöht sich je nach Lebensarbeitszeit und Verdienst existenzsichernd ab dem 60. Lebensjahr auf monatlich bis zu 1800 Euro, für Eltern aufgestockt um weitere knapp 86 Euro pro Kind.
Mitfinanziert wird es auch aus der Einkommensteuer (hier 40 Prozent) auf alle Einkünfte über das GE hinaus und eine einzuführende Lohnsummensteuer von zwölf Prozent der Arbeitgeber.
Fazit: Erkennbares Bestreben, am Solidargemeinschaftsprinzip  weitgehend festzuhalten bei der Reform des Sozialsystems.

Chancengleichheit durch Kindergrundsicherung

6. Das Ziel, allen Heranwachsenden möglichst gleiche Entwicklungs- und Bildungschancen zu ermöglichen, verfolgt das aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie gemeinnützigen Organisationen gebildete  „Bündnis Kindergrundsicherung“.  Minderjährige (bis zum 18. Lebensjahr) erhalten monatlich 573 Euro und (bis zum 25. Lebensjahr) Studierende sowie in Ausbildung Befindliche monatlich 290 Euro eltern- und sozialunabhängig sowie ungeachtet bestehender BAföG-Ansprüche, Zuschüsse und Sonderbedarfe etwa wegen Krankheit oder Behinderung.
Zur Finanzierung dienen Steuermehreinnahmen, etwa durch Abschaffung des Ehegattensplittings, Anhebung der Erbschafts- sowie Wiedereinführung von Vermögens- und Börsenumsatzsteuer, Kinder-„Soli“ auf Großvermögen. Zudem ist die Kindergrundsicherung einkommensabhängig zu versteuern. In der Folge ist es für Familien ohne oder mit nur geringem Einkommen quasi steuerfrei.
Fazit: Unebenheiten in der geltenden Familienleistungssystematik werden ausgeglichen.

Buchtipp: Eva Douma: Sicheres Grundeinkommen für alle – Wunschtraum oder realistische Perspektive? Cividale Verlag, 210 Seiten, 20,50 Euro. Erörtert werden auch die Finanzierungsfrage, Folgen für das bestehende Sozialsystem sowie Modellversuche in aller Welt.