Marcus Jahn ist Fachpsychologe für Rechtspsychologie und Psychotherapeut. Er hält Reue weder für ein notwendiges noch hinreichendes Mittel, wenn es darum geht, Täter von weiteren Vergehen abzuhalten.
Täter erklären oft, sie konnten nicht anders, berichtet Fachpsychologe Marcus Jahn. Dahinter stecke aber der Versuch, die eigene Verantwortung zu minimieren und das Selbstbild zu schützen, wie er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt.
KNA: Herr Jahn, Sie haben schon viele Menschen, die zum Teil schwere Straftaten begangen haben, begutachtet. Sehen die Menschen ein, dass sie etwas ganz Schlimmes gemacht haben?
Marcus Jahn: Das ist ganz unterschiedlich. Ich bin im Rahmen meiner Gutachtertätigkeit einmal einem jungen Mann, der bei einem Raubüberfall einen Sicherheitsmann getötet hatte, begegnet. Der Überfall war aus dem Ruder gelaufen, es kam zu einem Kampf, dann lag der Wachmann tot am Boden. Das Erste, wonach sich der Mann, der selbst verletzt worden war, erkundigte, war: “Wie geht es dem Wachmann?”
KNA: Das würden nicht alle Täter fragen?
Jahn: Die juristische Schuldfähigkeit für eigenes Handelns hängt von zweierlei ab: Kann ich überhaupt verstehen, dass ich gegen eine Norm verstoße, und habe ich die Steuerungsfähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln?
KNA: Das können nicht alle Menschen?
Jahn: Psychisch kranke Menschen können das in manchen Fällen nicht, gesunde Menschen schon.
KNA: Trotzdem haben Sie nicht immer die Einsicht?
Jahn: Täter schildern das häufig so, dass sie nicht anders handeln konnten. Sie sagen: Das war im Affekt, ich wollte das nicht, das kam einfach so über mich. Am Ende entscheiden sie sich aber doch bewusst, sie suchen ihr späteres Opfer auf, sie nehmen ein Messer in die Hand, sie besorgen sich eine Waffe. Wenn sie sagen, sie hätten nicht anders gekonnt, lügen sie sich selbst in die Tasche. Dahinter steht der Versuch, die eigene Verantwortung zu minimieren und ein selbstentschuldigendes Erklärungsmodell zu finden, das sich besser mit meinem Selbstbild vereinbaren lässt.
KNA: Aber ist das nicht gefährlich, wenn diese Täter wieder in Freiheit kommen?
Jahn: Nicht unbedingt. Wenn ein Täter nicht übermäßig viel Schuld empfindet, ist das zunächst nicht unbedingt schlimm. Solange er die richtigen Schlüsse daraus zieht.
KNA: Das heißt, die Frage der Schuld ist letztlich irrelevant?
Jahn: Sie ist, zumindest was die forensisch-psychologische Behandlung der Täter angeht, die ja einen zukünftigen Rückfall verhindern soll, nicht das alles Entscheidende. Die Gesellschaft erwartet Reue und geht davon aus, dass ein Täter, der bereut, nicht wieder straffällig wird.
KNA: Aber das ist nicht der Fall?
Jahn: Sagen wir, es gibt andere gute Gründe, nicht wieder straffällig zu werden. Bei manchen Menschen reicht schon die Angst vor negativen Konsequenzen, die wollen nicht nochmal ins Gefängnis. Grundsätzlich muss es darum gehen, dass der Täter versteht, wie es dazu gekommen ist, um Handlungsspielräume offenzulegen und so Negativspiralen zu durchbrechen. Es geht nicht darum, ein Schuldgefühl hervorzurufen. Schuld- und Schamempfinden schützen nicht zwangsläufig vor Delinquenz.
KNA: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mörder erneut tötet?
Jahn: Das relative Risiko einen Mord zu begehen ist höher, wenn jemand bereits für einen Mord verurteilt wurde, wenngleich die Zahl der Morde und der einschlägigen Rückfälle in Deutschland insgesamt gering ist.
KNA: Gibt es böse Menschen?
Jahn: Böse ist kein geeigneter Begriff, da steckt viel moralische Bewertung drin. Es gibt Menschen, die sind weniger ängstlich, haben eine höhere Risikobereitschaft, sind sehr durchsetzungsstark, gar rücksichtslos. Vielleicht wird ein solcher Mensch Extremsportler oder Top-Manager, wenn er in einer Familie aufwächst, die weiß, wie mit diesen Eigenschaften umzugehen ist. Vielleicht wird er aber auch zum Mörder, weil er in einer hochkriminellen Nachbarschaft aufwächst und sich die Eltern nicht um das Kind kümmern.
KNA: Kann jeder Mensch zum Mörder werden?
Jahn: Theoretisch ist denkbar, dass Menschen in bestimmten Situationen und unter unterschiedlichen Einflussfaktoren grausame Dinge machen. Es gibt Szenarien, in denen wohl die meisten von uns Hemmschwellen überschreiten würden. Klassisches Beispiel ist: Wie weit würde ich gehen, wenn jemand meinem Kind etwas antut?