Jüdische Stimmen zum Jahrestag des Terrorangriffs vom 7. Oktober
Milena Hasselmann, Pfarrerin am Institut Kirche und Judentum (IKJ) in Berlin, fragte drei Jüdinnen nach ihren Gedanken zum ersten Jahr nach dem Hamas-Angriff auf Israel.
Ilona Altschuler Amiel: Im Oktober vergangenen Jahres war ich mit meiner Familie in Israel, wo wir die letzten vier Jahre gelebt haben. Während einer der letzten Feiertage in diesem Monat hielten wir uns in Jerusalem auf, als die tragischen Ereignisse ihren Lauf nahmen. Zunächst war uns nicht ganz klar, was genau geschehen war. Es ist wichtig zu betonen, dass Sirenen in Jerusalem vor einem Jahr noch unüblich waren und es kaum Schutzräume gab und gibt. In dieser Zeit lebte ich auch in Ramat Gan bei Tel Aviv, wo es gelegentlich zu Alarmen kam.
Seit meinem Umzug nach Deutschland habe ich persönlich keine Vorfälle erlebt, die sich negativ auf meine Arbeit in der Villa Seligmann oder auf mein persönliches Wohlbefinden ausgewirkt hätten. Dennoch gab es während einer Schulveranstaltung einen bemerkenswerten Vorfall, bei dem eine Zweitklässlerin fragte, „Warum Israel ein böses Land“ sei.
Selbstverständlich habe ich meine Antwort professionell und altersgerecht formuliert. Diese Frage hat mich jedoch emotional stark berührt und verdeutlicht, wie wichtig es ist, bereits in jungen Jahren die richtige Information altersgerecht und spielerisch zu vermitteln.
Den kulturellen Austausch aufrechterhalten
Die Ereignisse des letzten Jahres haben uns natürlich auch an meinem Arbeitsort, der Villa Seligmann, motiviert, unsere Programme zu überdenken und zu intensivieren. Die Villa Seligmann in Hannover ist ein pulsierendes Zentrum jüdischer Kultur, wo Musik, Geschichte und Dialog untrennbar miteinander verwoben sind. In Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen wird die Auseinandersetzung mit dem Jüdisch-Sein zunehmend bedeutender. Sie verleiht dem Alltag Tiefe, stärkt das Selbstbewusstsein und inspiriert.
Rückblickend erkennen wir, wie sehr die Geschehnisse unser Verständnis von Gemeinschaft und Identität geprägt haben. Unsere Veranstaltungen waren lebendige Ausdrucksformen dieser Werte und haben den kulturellen Austausch aufrechterhalten, selbst in herausfordernden Zeiten.
Yemima Hadad: Und hier stehe ich wieder mitten in einer Geschichte, als Jüdin und als Israelin, die die ganze Schuld, die ganze Last der Ungerechtigkeit, die ganze Schande und Hässlichkeit, die ganze Schuld für das, was seit dem 7. Oktober geschehen ist, auf sich trägt. Als diejenigen, die für all das Unrecht der Menschheit verantwortlich sind (eine Rolle, die uns schon oft zuvor zugewiesen wurde), müssen wir Juden erneut darauf verzichten, uns offen mit unserer Religion zu identifizieren. Wir verzichten darauf, Fragen nach unserer Herkunft zu beantworten oder sagen einfach nicht die Wahrheit, wenn wir von Fremden gefragt werden, woher wir kommen. Wir verzichten darauf, ein Buch auf Hebräisch bei uns zu tragen oder in der Öffentlichkeit am Telefon Hebräisch zu sprechen, eine Mezuzah an der Haustür anzubringen und zuweilen unsere eigenen Schulen und Synagogen zu besuchen. Wir leben in einer Welt, die von Erzählungen und Legenden beherrscht wird, und es gibt eine Legende, die sich durch 2000 Jahre Geschichte zieht, dass die Juden für alles Übel in der Welt verantwortlich sind, für die Ermordung des Messias, die Pest, den Börsenkrach, den Ersten Weltkrieg und sogar für ihren eigenen Tod im Holocaust. Durch diese Legende befreit sich die Welt immer wieder von ihrer Schuld.
„Die ganze Welt trägt Schuld“
Hier stehen wir wieder allein, ein Jahr nach dem Massaker vom 7. Oktober, mit all der Schuld, wobei einige von uns zugeben, dass alles unsere Schuld ist, und versuchen, sich durch Rituale der politischen Beichte und Reinigung davon zu reinigen, Israelis zu sein. Einige von uns geben zu, dass ein Teil der Schuld bei uns liegt, aber nicht die ganze Schuld. Einige von uns schieben die Schuld auf andere. Aber die ganze Welt trägt Schuld. Anstatt wieder auf „die Juden“ zu zeigen und eine einfache Schuldgeschichte zu erzählen – das alte Gerücht, von dem wir aus der Geschichte wissen, dass es Antisemitismus bringt und in den Gräueltaten gegen Jüdinnen und Juden gipfelt –, muss jeder von uns in seine eigenen Gemeinschaften, in sein eigenes Volk hineinschauen und die Schuld finden, die zu diesen Ereignissen geführt hat.
Das Massaker vom 7. Oktober darf nicht durch die Tragödie des Krieges in Gaza in den Hintergrund gedrängt werden. Umgekehrt müssen wir uns daran erinnern, dass wir Juden verpflichtet sind, des Todes der Unschuldigen in Israel zusammen mit dem Tod der Unschuldigen in Gaza zu gedenken, damit jeder von uns – Juden, Christen und Muslime – auf seine Gemeinschaft zurückblicken und darüber nachdenken kann, welchen Anteil er an der Schuld hat. Der Antisemitismus hat noch nie ein einziges Problem gelöst. Den 7. Oktober auszulöschen und die Schuld auf ein einziges Land und ein einziges Volk zu lenken, ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
Gesa S. Ederberg: Das gerade vergangene jüdische Jahr 5784 wird das schlimmste Jahr seit der Schoa. Der 7. Oktober der schlimmste Tag in der Geschichte Israels nach der Schoa. So knapp und einfach lässt es sich ausdrücken, wie es Jüdinnen und Juden weltweit gerade geht.
Der brutale Überfall der Hamas, das Massaker an über 1200 Menschen, die brutalen Vergewaltigungen und die Entführungen – und die Schrecken haben nicht aufgehört. Ich selbst kannte eine junge Frau, Maya, die beim Musikfestival ermordet wurde – und wir alle kennen Menschen, deren Verwandte ermordet oder entführt wurden. Es ist ganz nah – wie in der eigenen Familie, bevor wir überhaupt mit einbeziehen, was auf den Straßen, in den sozialen Medien, in den Kulturinstitutionen passiert. Kinder und Jugendliche wechseln an die jüdischen Schulen, weil sie schlimme Erfahrungen machen – und manche Menschen kommen aus Angst nicht mehr in die Gemeinden.
Wieder ein Terrorangriff an einem Feiertag
Letztes Jahr, kurz vor dem 7. Oktober, haben wir an den 50. Jahrestag des Überfalls auf Israel durch die umliegenden arabischen Staaten gedacht, der an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag stattfand. Genau 50 Jahre später (nach dem bürgerlichen Kalender) fand der Überfall der Hamas statt, nicht zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag, sondern an Simchat Tora – dem Tora-Freudenfest, an dem wir die fünf Bücher Moses zu Ende lesen und gleich wieder von vorne anfangen. Wieder ein Feiertag, an dem in Israel die militärische Wachsamkeit auf ein Minimum reduziert war, wieder sind Menschen direkt aus den Synagogen gerufen worden, und zu ihren Einheiten und in den
Süden gefahren.
Solange noch Geiseln in Gaza gefangen sind, solange es noch täglich Raketenangriffe aus Gaza und aus dem Norden gibt, kann Israel nicht zur Ruhe kommen, bleibt der Frieden eine verzweifelte Hoffnung.
Wenn wir die Hohen Feiertage feiern und als Gemeinden und Familien zusammenkommen, müssen Tausende Flüchtlinge in Israel in improvisierten Unterkünften feiern. Und: an zu vielen Familientischen bleiben Plätze leer, Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Großeltern, die ermordet wurden, oder die immer noch in Gaza gefangen sind.