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Jüdische Filmemacherin auf den Spuren ihrer ultraorthodoxen Familie

Mit 17 Jahren verließ die jüdische Filmemacherin Bar Mayer ihre ultraorthodoxe Familie in Israel. Nun kehrt sie mit ihrer Kamera zurück – und tritt in einen indirekten Dialog dreier Generationen.

Um der arrangierten Ehe mit einem Thora-Gelehrten zu entgehen, verließ Bar Mayer als 17-Jährige ihre ultraorthodoxe israelische Familie. Erst nach einem Jahrzehnt kehrte die verstoßene Tochter erstmals zu ihrer Familie zurück – und machte dabei eine Entdeckung, die ihr Selbstbild und vor allem ihren Blick auf ihre Mutter grundlegend verändern sollte.

Das Motiv dieser strenggläubigen chassidischen Glaubensgemeinschaft wurde in den vergangenen Jahren überraschend oft filmisch aufbereitet. Unter anderem adaptierte Maria Schrader mit ihrer Netflix-Miniserie “Unorthodox” die autobiografische Romanvorlage von Deborah Feldman, die ebenfalls aus dieser hermetisch abgeriegelten Religionsgemeinschaft flüchtete. Und dank der erfolgreichen israelischen Serie “Shtisel” wurden ultraorthodoxe Glaubensgemeinschaften beinahe zum Pop-Phänomen.

In ihrem Langfilmdebüt beleuchtet Bar Mayer diese Thematik nun aus einer neuen Perspektive. Dabei verknüpft ihr streckenweise essayistisch anmutender Dokumentarfilm die Rückkehr nach Tifrah, einem israelischen Dorf mit mehrheitlich ultraorthodoxer Bevölkerung, mit der autobiografischen Rückschau auf ihr früheres Leben. Damals wurde jeder Schritt in ihrem Alltag nach religiösen Regeln bestimmt. Zudem verzichtet diese jüdische Community, ähnlich wie die Amish-People, auf viele technologische Annehmlichkeiten der Moderne. Auch Bar Mayers Kamera wurde während ihrer erstmaligen Rückkehr in die ultraorthodoxe Gemeinschaft nicht gerne gesehen.

Filmen durfte sie dennoch – aber nur leere Räume ohne ihre Familienmitglieder, für die sie eine Ausgestoßene bleibt. Dass sie sich in dieser Welt – in der Männer singen und tanzen, während die Frauen aus einem Nebenraum zusehen müssen – wie ein Geist fühlt, bringt die Regisseurin mit dosiert eingesetzten visuellen Effekten zum Ausdruck. Nach ihrer Flucht aus dieser rigiden Beengung findet Bar Mayer aber auch im säkularen Israel keine geistige Heimat. Dieses brisante Thema streift der Film ganz bewusst nur am Rande.

Gemeinsam mit einem ihrer Brüder, der wie sie aus der ultraorthodoxen Gemeinschaft ausbrach, wird sie schließlich in Berlin heimisch. Alte Fotografien, die der Bruder ins Exil mitbrachte, zeigen ihren Großvater, der auf jedem der vergilbten Bilder stets eine Super-8-Kamera in Händen hält. Dieses Motiv löst etwas aus. Tatsächlich stößt die Regisseurin bei ihrer erstmaligen Rückkehr zur Familie auf alte Filmrollen.

Mit der sukzessiven Entschlüsselung dieser Jahrzehnte verborgenen Zeitkapsel erschließt der Film eine neue Dimension. Bar Mayers Großeltern, Sabine Klausner und Jakob Eichenstein, kamen nach Kriegsende als Displaced Persons nach München, wo der Großvater ein Geschäft für Elektro- und Fotoartikel eröffnete. Nur vage erinnert Bar Mayer sich an ihren Opa, der sich “immer versteckte, wenn jemand an der Tür klopfte”. Bei genauerer Betrachtung seiner Filme, die bei Urlauben im Grenzgebiet zwischen Österreich, Italien und Deutschland entstanden, sind zahlreiche unbekannte Gesichter zu sehen, die scheinbar unbeabsichtigt mit aufgenommen wurden. War das vielleicht kein Zufall? Observierte der Großvater vielleicht Nazi-Kriegsverbrecher, die sich aus dem Staub machten, entlang der sogenannten “Rattenlinie”, wie die Fluchtroute über die Alpen genannt wurde?

Diese in der Schwebe bleibende Suchbewegung schließt an das eigentliche Thema dieser bemerkenswerten Dokumentation an. So lernt die Regisseurin dank der Filme ihres Großvaters auch ihre 1950 in München geborene Mutter von einer völlig unbekannten Seite kennen. Die Mutter wollte Eisläuferin werden – von Filmrolle zu Filmrolle erscheint ihr Schlittschuhlauf kunstvoller. Warum wanderte die Familie 1967 nach Israel aus, warum heiratete ihre Mutter dort einen ultraorthodoxen Rabbiner? Jene dreizehn Kinder, die sie ihm schenkte, haben inzwischen über hundert Enkel und Urenkel. “Das sind weniger als die Anzahl ihrer Familienmitglieder, die im Holocaust ermordet wurden”, heißt es im Film.

Mit solchen messerscharfen Off-Kommentaren verwebt die Regisseurin ein komplexes Themengeflecht, das die Schoah mit dem Nachkriegsdeutschland in München sowie der gegenwärtigen Realität in Israel und der Situation einer in Berlin lebenden Exiljüdin verknüpft. Den roten Faden dieser vielschichtigen Erkundung bildet jedoch die allmähliche Entschlüsselung einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung.

Ein Schlüsselmotiv ist dabei jene ausdrucksstarke, lustbetonte Körperlichkeit, welche die Mutter in den Super-8-Filmen zeigt. Es ist jene Körperlichkeit, die sie mit 17 Jahren aufgeben wird – demselben Alter, in dem ihre Tochter die gegenteilige Richtung einschlägt. So hängt auch Bar Mayers Selbstfindung gewiss nicht zufällig zusammen mit der lustvollen Erkundung ihrer eigenen Körperlichkeit, die sie unter anderem mit Aktaufnahmen in den Fokus rückt: “Wir haben die Plätze getauscht. Ich trat durch die Tür in das Leben, das sie beschlossen hatte aufzugeben”.

Neben der visuellen Gestaltung beeindruckt auch Bar Mayers Sprachgewalt. Und so entwickelt dieser Dokumentarfilm dank seiner romanartig anmutenden Erzählstruktur eine hypnotische Intensität. “Auf den Spuren meiner ultraorthodoxen Familie” ist keinesfalls eine Abrechnung mit den ultraorthodoxen Juden. Der Film ist auch nicht von Verbitterung gezeichnet. Der Regisseurin gelingt vielmehr die unaufgeregte, unprätentiöse Darstellung einer schwierigen Selbstfindung, bei der drei jüdische Generationen, die auf unterschiedliche Weise vom Holocaust betroffen sind, ein indirektes Gespräch miteinander führen.

Dass dabei einige der aufgegriffenen Stränge nicht weiterverfolgt werden – etwa die Geschichte der Großeltern, die vor dem Krieg in Polen lebten und die Schoah in verschiedenen Lagern für Zwangsarbeiter überlebten – stört dabei nicht. Dass dieser faszinierende Dialog mit all seinen Schwierigkeiten und Zwischentönen überhaupt zustande kommt, liegt auch daran, dass die Regisseurin das ausgewertete Super-8-Material ihres Großvaters mit ihrem eigenen Stil des Filmens zu einer überzeugenden Ganzheit zusammenführen kann.