Als Johann Sebastian Bach, dessen Todestag sich am 28. Juli zum 275. Mal jährt, Karfreitag 1729 in der Leipziger Thomaskirche seine geniale Matthäuspassion zum ersten Mal aufführte, äußerte eine vornehme Kirchenbesucherin pikiert: „Behüte Gott! Ist‘s doch, als ob man in einer Opera Comedie wäre!“ Dem hochlöblichen Leipziger Magistrat war das Werk ebenfalls viel zu dramatisch, zu modern und zu lang; er untersagte Bach weitere Aufführungen – und kürzte ihm die Bezüge, als er sich beschwerte.
Es erscheint wie ein Wunder, dass der von allen Seiten schikanierte Thomaskantor die Kraft fand, treue Schüler um sich zu sammeln und mit unverdrossenem schöpferischem Elan Passionen, Messen, Motetten, Orgel- und Klaviermusik, volkstümliche Kanons und exakt 295 Kirchenkantaten zu komponieren – unvergängliche Meisterwerke, die die barocke Ära glanzvoll abschließend und zugleich ein neues Zeitalter heraufführend.
Johann Sebastian Bach – ein frommer Lutheraner
Immer wieder geriet er, der fromme Lutheraner, an Pietisten und Reformierte, die von einer zu „schönen“, zu verspielten oder zu prächtigen Kirchenmusik den heiligen Ernst des Gottesdienstes bedroht glaubten – während er doch gerade in der Sprache der Töne eine wunderbare Möglichkeit sah, Gott zu preisen und die Menschen auf den Glauben einzustimmen.
Ostern 1739 untersagte ihm der „Hochedle und Wohlweise Rat“ der Stadt Leipzig die Wiederaufführung seiner heute zur Weltklasse gehörenden Johannespassion mit der denkwürdigen Begründung, dass „es der Herr Cantor verabsäumet habe, den Text ordnungsgemäß vom Rat genehmigen zu lassen“! Um dem dreisten Bach zu zeigen, wie wenig man von ihm hielt, ließen ihm die Ratsherren ihre Entscheidung durch den städtischen Unterleichenschreiber überbringen.
Ein Glaube, wie der eines Kindes
Bach verstand sich allerdings nie als Angestellter einer Behörde, dazu war seine Kunstauffassung zu unabhängig. Er hatte es auch nicht nötig, sich bei Kirchenverwaltungen anzubiedern oder seine Rechtgläubigkeit zu beweisen. Bachs Glaube war schlicht wie der eines Kindes und stark wie der eines durch viele Katastrophen gegangenen Mannes. Seine Musik sei ein Glaubensbekenntnis gewesen, sagen keineswegs nur Theologen.
Ganz offensichtlich hat Bach in der Musik zwar keinen Gottesbeweis, aber einen hervorragend geeigneten Weg zur Begegnung zwischen Mensch und Gott gesehen. In seiner Bibel ist uns eine Randnotiz erhalten geblieben, mit eigener Hand ins zweite Buch der Chronik hineingekritzelt. Dort ist die festliche Einweihung des Jerusalemer Tempels geschildert und auch die dazugehörige Musik mit „Trompeten, Cymbeln und Saitenspielen“. In Bachs kommentierter Bibel ist die Stelle mit dem Satz überschrieben „Wie auf die schöne Musik die Herrlichkeit des Herrn erschienen sei“.
Schöne Musik
Johann Sebastian unterstrich die Worte „schöne Musik“ und notierte am Rand: „Notabene (Merke wohl): Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart.“ Man muss einmal die strahlende Gewissheit des Credos der titanischen h-Moll-Messe auf sich wirken lassen, wo Paukenschläge und ein in fassungslosem Staunen immer wieder neu zum Jubel ansetzender Chor die Auferstehung des zu Tode gemarterten Christus verkünden und ein Fanfarenorchester die Auferweckung der Toten aus ihren Gräbern begrüßt.
Man muss der bitterlichen Selbstanklage des weinenden Petrus in der Matthäuspassion lauschen und im anschließenden Choral „Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein“ sich selbst als einen Christus ständig Verratenden entdecken – um es ganz normal zu finden, dass diese Musik ein Weltbild umstürzen und ein hart gesottenes Herz verwandeln kann.
Die Passionen sind Musterbeispiele für Bachs Kunst, das biblische Geschehen in die Lebenssituation des Publikums hereinzuholen: „Herr, bin ich‘s?“ fragen die Jünger im Abendmahlssaal in hektisch aufeinanderfolgenden Einsätzen, fallen ängstlich und aufgeregt einander ins Wort, wollen von Jesus erfahren, wer ihn ans Messer liefern wird. Der Hörer weiß es natürlich: Judas. Doch Bach schließt unmittelbar an die furiose Frage-Fuge einen Choral an, der jede Selbstgerechtigkeit beschämt: „Ich bin‘s, ich sollte büßen / an Händen und an Füßen / gebunden in der Höll‘. / Die Geißeln und die Banden, / und was du ausgestanden, / das hat verdienet meine Seel‘.“
Bekenntnis zur Ökumene
Ein Visionär ist er mit seinem Bekenntnis zur Ökumene gewesen. Wenn der Lutheraner Bach mit der Messe in h-Moll, einem Klanggebirge von atemberaubender Wirkung, eindeutig Musik für den katholischen Gottesdienst komponierte, dann konnte das doch nur heißen, dass er des ständigen Kleinkriegs zwischen Konfessionen überdrüssig war. Es war Musik, die nach damaligem Stand der Dinge wohl nie aufgeführt werden sollte, weil die Katholiken die Messe eines Protestanten kaum für liturgiefähig halten und die Evangelischen für eine lateinische Messekomposition keine Verwendung haben würden.

Mal abgesehen von der Länge: volle zwei Stunden. Es war, als wollte er den Kirchen sagen: Einigt euch endlich, in der Musik, in der Kunst ist das ja auch möglich. Heute hat man ihn endlich verstanden. Bachs Orgelwerke werden mit Selbstverständlichkeit in der katholischen Liturgie verwendet, einer seiner Choralsätze steht im Orgelbuch zum katholischen „Gotteslob“. Als Papst Johannes XXIII. am 11. Oktober1962 das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete, da zogen die 2540 Bischöfe und Äbte aus der ganzen Welt zu den feierlichen Orgelklängen von Bachs Präludium c-Moll in den Petersdom ein.
Die letzte Kantate
„Du Friedefürst!“ nannte er eine seiner letzten Kantaten, komponiert 1745 unter Kanonendonner, während die Preußen Leipzig belagerten. Zwei Jahre später lieferte er den Preußenkönig Friedrich dem Großen, der ihn bewunderte und hofierte, in seinem „Musikalischen Opfer“ eine sarkastische moralische Standpauke: Die riesige Fuge verwendet ausnahmsweise nur konservative musikalische Formen aus dem 17. Jahrhundert.
Der kunstsinnige Monarch wird die stumme Kritik an der neuen europäischen Ordnung sehr wohl verstanden haben, die er mit Annexionen und Kriegen zu schaffen suchte. Alt und müde war er geworden, der Thomaskantor. Die „Kunst der Fuge“ musste er seinem Schwiegersohn diktieren, weil er nach einem Schlaganfall fast blind geworden war. Als er auf dem Sterbebett plötzlich das volle Augenlicht wiedererlangte und zärtlich seine Enkel betrachtete, reichte ihm seine Frau Anna Magdalena eine rote Rose. Sein Blick weitete sich „und verweilte auf der Pracht ihrer Farbe“, berichtete sie später. „‚Magdalena‘, sagte er, ‚wo ich hingehe, da werde ich schönere Farben sehen und die Musik hören, von der wir, du und ich, bislang nur geträumt haben. Und schauen wird mein Auge den Herrn selbst!‘“
