Innovativ in Krisenzeiten

Geht es mit der Kirche nur bergab? „Die derzeitige Krise ist eine Chance für Veränderung“, sagt Leonie Pfisterer. Sie gehört zum ersten Jahrgang eines Master-Studiengangs an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der in Deutschland ein Novum ist: „Pioneer Ministry“. Mit dem Ziel, an der Erneuerung der Kirche mitzuarbeiten, ist die 28-Jährige mit ihrem Ehemann von Heidenheim nach Naumburg gezogen. Als eine von sechs Studierenden, von denen drei aus Baden-Württemberg kommen, nimmt sie am neuen Studiengang teil. „Ich habe ganz viel Hoffnung für die Kirche,“ sagt sie.

In Jena setzt sich die Biologin und Biotechnologin mit verschiedenen theologischen Positionen auseinander. Neben dem theologischen Wissen erwerben die Studierenden interdisziplinäre Kompetenzen, die helfen, ein kirchliches oder diakonisches Start-up aufzubauen und Praxiserfahrungen zu reflektieren, etwa im Spiegel von Psychologie oder Philosophie.

Ein Tag in jeder Studienwoche ist von Anfang an der Praxis gewidmet. So arbeitet Leonie Pfisterer im sozialdiakonischen „Jesus-Projekt Erfurt“ mit, einem der etwa 50 „Erprobungsräume“, wo die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland neue Wege geht, um Menschen mit der Liebe Gottes zu erreichen. Die Studentin arbeitet hier erstmals vor allem mit Senioren, hat ein offenes Ohr, organisiert Ausflüge aus dem Plattenbau ins Grüne, hilft im christlichen Begegnungscafé mit.

Auch persönliche geistliche Begleitung ist Teil der vier Semester. „Das monatliche Gespräch hilft, in der Beziehung zu Gott und den Mitmenschen nicht betriebsblind zu werden und Unterstützung in persönlichen Prozessen zu erfahren“, erklärt die Heidenheimerin, die sich vor dem Jenaer Studium mit ihrem Mann soziale und christliche Projekte in Mexiko, San Francisco und Südafrika angesehen hat.

Wie Pfisterers Arbeit als Pioneer Minister, Pionierin oder schlicht Missionarin – Berufsbezeichnung wie Berufsbild sind noch in der Entwicklungsphase – aussehen wird, ist noch offen. „Das muss Gott leiten und führen“, sagt die 28-Jährige, die ihre Arbeit als Biologin „cool“ fand, aber letztlich nicht erfüllend. „Ich habe mir die Frage gestellt: Was will ich wirklich? Und vor allem: Was stellt sich Gott vor?“, so Leonie Pfisterer.

Mit ihrem Unternehmen „Editha-Geschichten“ hat Silke Kriese in Weissach im Tal (Rems-Murr-Kreis) bereits ein christliches Start-up. Auf der Internetseite von Fresh X, dem Netzwerk für neue kirchliche Ausdrucksformen, zu dem Krieses künstlerische Initiative gehört, hat die 49-Jährige 2023 den nagelneuen Studiengang entdeckt. Ihr war klar: „Ich brauche die Theorie zur Praxis, mir fehlt die Ausbildung für das, was ich seit Jahren mache.“

Anregungen, mit Geschichten, Tanztheater oder Hörspielen jenseits frommer Worte zum Glauben einzuladen, erhielt die gelernte Gärtnerin und Diplom-Agraringenieurin bereits in der Kindheit durch ihre inzwischen 101-jährige Großmutter Editha Humburg, mit der sie noch immer in Austausch steht. Straßentheater zum Reformationstag, Feste wie der St. Patrick’s Day oder Osternächte – einladende Kreativität prägt das ehemalige Weissacher Gasthaus, in dem Silke und Jörg Kriese leben.

Neben Systematischer Theologie findet die Weissacherin, die hauptsächlich online studiert, Wissensvermittlung über Fundraising und Projektmanagement hilfreich: „Das ist sehr praxisnah.“ Beide Studentinnen loben die „sehr gute Gemeinschaft“ unter den Studierenden, die unterschiedlichen Konfessionen angehören, sowie das gute Verhältnis zu den Dozierenden.

„Es ist eine Win-Win-Situation“, sagt Achim Härtner, Prorektor an der Evangelisch-methodistischen Theologischen Hochschule Reutlingen, über die formelle Kooperation mit der Evangelisch-Theologischen Fakultät Jena. Über neue Aufbrüche in der ökumenischen Fresh-X-Bewegung seien in England zwischen 1989 und 2020 mehr als 9.750 neue Gemeinden entstanden, weiß der Praktische Theologe, der seit 20 Jahren über das Thema forscht und lehrt. Auch in Deutschland gebe es eine Innovationsbewegung von der Basis her, die zunehmend von den Kirchenleitungen unterstützt werde. (2147/24.09.2024)