“Inklusion gehört ins reale Leben”
Inklusion – wer sich mit der Gleichberechtigung von behinderten Menschen beschäftigt, kommt am Schlüsselwort der „gesellschaftlichen Teilhabe“ nicht vorbei. Genau um diese viel beschworene Teilhabe sorgte sich Anna, als sie die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen verließ. Würde sie in einem Beruf arbeiten, eigenes Geld verdienen, selbstbestimmt leben können? So wie es die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vorsieht? Oder würde ihre Zukunft im betreuten Arbeiten einer Behindertenwerkstatt liegen? „Ich hatte da wirklich Sorge“, sagt sie.
Diese Sorge ist die 22-Jährige nun los. Sie arbeitet, geht zur Berufsschule, ist sozialversichert – in einem wirtschaftlich erfolgreichen Betrieb. Anna macht eine dreijährige Ausbildung zur „Fachpraktikerin für Hauswirtschaft“ in der Jugendherberge Goslar am Harz. Ihre Aufgaben: die Reinigung der Räume sowie Küchenarbeit, spülen, abtrocknen, Speisen zubereiten.
„In der Küche arbeite ich am liebsten, aber heute wird das nichts“, sagt die junge Frau, die gerne Ed Sheeran hört, und greift tapfer zum Wischmopp. Die Zimmer der schiefergedeckten Herberge aus dem Jahr 1938 mit ihren rund 23.000 Übernachtungen im Jahr müssen gereinigt werden, eine neue Schulklasse reist an.
Seit 2017 arbeiten in der Jugendherberge Goslar Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Neun der 22 Mitarbeitenden sind behindert, darunter drei Auszubildende. Manche sitzen im Rollstuhl, haben geistige Einschränkungen, psychische Probleme, Lernschwierigkeiten.
Im Oktober hat die Jugendherberge den bundesweiten „Inklusionspreis für die Wirtschaft 2024“ erhalten. Schirmherr Hubertus Heil (SPD) unterstrich bei der Laudatio die Bedeutung von Menschen mit Behinderungen für die Arbeitswelt. Sie könnten unglaublich viel und fänden dennoch viel zu oft keine Arbeit, sagte der Bundesarbeitsminister. „Genau deswegen führt an Inklusion kein Weg vorbei.“ Laut Statistik lebten 2023 in Deutschland 7,9 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, das sind 9,3 Prozent der Bevölkerung.
Dass Annas Sorge, auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance zu bekommen, berechtigt war, zeigt das Inklusionsbarometer der „Aktion Mensch“ aus dem vergangenen Jahr. „Menschen mit Behinderung werden auf dem Arbeitsmarkt weiterhin strukturell diskriminiert“, heißt es dort. Die Arbeitslosenquote sei mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine. Und mehr als ein Viertel der dazu verpflichteten Arbeitgeber – das sind Betriebe mit mindestens 20 Arbeitsplätzen – beschäftigten gar keine Menschen mit Behinderung.
Uwe Wemken schüttelt angesichts dieser Fakten den Kopf. „Verschenktes Potenzial, gerade wenn man sich den Fachkräftemangel anschaut“, sagt der Leiter der Jugendherberge. „Menschen mit Behinderungen haben nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken, und sie wollen arbeiten – man kann sie ohne Probleme beschäftigen.“ Dass es manchmal nicht so schnell gehe, sei für die meisten Gäste okay. Beschwerden gebe es selten, sagt er.
Wemken, der als Regionalleiter auch die Jugendherbergen Hahnenklee, Torfhaus und Braunlage im Harz betreut, meint es ernst mit dem inklusiven Gedanken. Von Einwänden und Vorbehalten lässt er sich nicht aufhalten. „Als Gesellschaft finden wir immer viele Gründe, warum etwas nicht funktioniert“, sagt er. „Wir machen hier einfach – und es läuft.“
Wemken und Stefanie Mazannek, seine Stellvertreterin, verzichten auf Bewerbungen, Lebensläufe, Zeugnisse. „Wer bei uns arbeiten möchte, kommt vorbei, und dann finden wir heraus, welche Tätigkeit passt.“ Küche, Housekeeping, Garten, Rezeption: Bewerber schnuppern während eines längeren Praktikums in die verschiedenen Bereiche, schauen, was sie gerne machen und gut können.
Astrid zum Beispiel trocknet gerne ab, sie bügelt, gießt Blumen, schnippelt die Gurken für den Salat. An ihrer Seite ist Arbeitsassistentin Andrea Krüger. Sie unterstützt die 28-Jährige, die körperlich und geistig behindert ist, beim Ausführen ihrer Tätigkeiten und ist auch in ihrer Freizeit für Astrid da.
Die Gehälter des behinderten Personals zahlt wie bei allen anderen auch das Jugendherbergswerk. Ist jemand aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht in der Lage, volle Leistung zu bringen, so schauen Wemken und Mazannek, wie sie die Lücke finanziell schließen. Zuschüsse kommen etwa aus dem Aktionsplan „Budget für Arbeit“, vom Bildungswerk der niedersächsischen Wirtschaft sowie von regionalen Partnern wie dem Verein „Eltern für regionale Inklusionskonzepte“ und der Lebenshilfe Goslar.
Die Finanzierung sicherzustellen, erfordert Kreativität – und Büroarbeit. Für Herbergsvater Wemken alternativlos. „Ich klopfe an jede Tür“, sagt er. „Inklusion ist ein verbrieftes Recht, das wir umsetzen müssen, da gibt es nichts zu diskutieren.“
Und noch etwas hat sich für Wemken gezeigt: Inklusion gehöre ins reale Leben, sagt er. Ohne große Worte darüber zu verlieren, ohne spezielle Zertifizierung. Wer die Homepage der Jugendherberge Goslar aufruft, sucht deshalb auch vergebens auf einen Hinweis, dass hier inklusiv gearbeitet wird. „Wozu auch?“, fragt Wemken.