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Impfen – und umkehren

Warum Alexander Brodt-Zabka den Impfaufruf des Bischofs voll mitträgt. Aber es nicht dabei belassen will

Von Alexander Brodt-Zabka

Vor vierzehn Tagen hat unser ­Bischof in dieser Zeitung  (Nr. 47) einen eindringlichen Impfaufruf gestartet: „Ich bitte Sie: Lassen Sie sich impfen. Um Ihrer Nächsten willen. Um der Kinder willen. Um unserer Gesellschaft willen. Um Ihrer selbst willen. Aus Verantwortung, Solidarität und Nächstenliebe …“

Angesteckt bei der Chorprobe

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wovon Bischof Christian Stäblein spricht: Vor ziemlich genau einem Jahr hat sich ein Teil meiner Familie mit dem Coronavirus infiziert. Passiert ist das beim Singen – unser Quartett wollte für Online-Andachten Advents- und Weihnachtschoräle einsingen. Alle Fenster waren offen, wir haben Abstand gehalten, uns mit Masken bewegt – und trotzdem haben wir uns alle angesteckt. Erst später sagte uns ein Quartettmitglied, er habe Halskratzen gehabt. Wie sich später herausstellte, hatte er sich bei seinem Vater infiziert – der ein paar Wochen später starb. 

Wir alle haben die Infektion Gott sei Dank überstanden. Die Verläufe waren bei uns allen unterschiedlich: Kopfschmerzen, Fieber und eine Woche lang Geschmacks- und Geruchsverlust – ein milder Verlauf bei mir; eine heftige Lungenentzündung bei meinem Mann – und meine 76-jährige Schwiegermutter musste kurz vor Weihnachten ins Krankenhaus auf die Intensivstation, weil sich ihr Zustand immer mehr verschlechterte. Hoffen, Bangen und Beten zwischen den Jahren, bis wir an Silvester dann aufatmen konnten. Aber es dauerte Monate, bis sie sich von der Infektion erholt hat.

Schwer Erkrankte begleitet

Ich weiß also aus eigener Erfahrung, wie dieses Virus wütet und in das Leben von Menschen und Familien eingreift. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres habe ich zudem übergangsweise in der Krankenhausseelsorge im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain und in der Charité Campus Mitte gearbeitet. Ich habe dort Menschen begleitet, die einen „schweren Verlauf“ der Erkrankung hatten: Einige haben es gerade so geschafft und müssen nun mit Long-Covid-Folgen leben, und es ist noch nicht absehbar, ob sie sich jemals wieder vollständig erholen werden. Andere habe ich am Virus sterben sehen. Insofern habe ich kein Verständnis für Menschen, die sich nicht gegen das Virus impfen lassen und trage den Impfaufruf unseres ­Bischofs voll und ganz mit.

Gleichzeitig meine ich, wir sollten es dabei nicht belassen. Ich bin zutiefst überzeugt, der Umgang mit dem Virus fordert auch unser theologisches Denken und unsere Verkündigungspraxis heraus: Denn das Virus wird nicht „weggehen“, wir werden es auch nicht ein für allemal „wegimpfen“ können. Trotz Erfahrungen mit dem Virus am eigenen Leib, in der Familie und auch beruflich will und kann ich es nicht als „Feind“ ansehen, den es zu bekämpfen und auszumerzen gilt. Das prophetische Amt unseres Glaubens ist gefordert. Das Virus hat für mich etwas von einem Spiegel, der ein Licht auf unser Leben wirft. Und ich bin überzeugt: Wir werden in diesen Spiegel schauen müssen, früher oder später. Die Propheten waren nicht populär, wenn sie ihren Zeitgenossen „Kehrt um!“ entgegenhielten. 

Die Adventszeit ist eine Zeit der Buße und konfrontiert uns mit unserer Schuld: Wir leben falsch! Alle! Wir leben über unsere Verhältnisse, beuten die Schöpfung aus und vernichten unsere Lebensgrundlagen. Klimakatastrophe, rasantes Artensterben und Zerstörung von Ökosystemen innerhalb kürzester Zeit. Die Vermüllung von Landschaften und der Meere, der Wahnsinn des Massentourismus überall auf dieser Welt und die Haltung vieler, vieler Menschen, dass ihnen das aber zustehe, dass sie es sich verdient haben. All das, ein falsches Leben können wir nicht „wegimpfen“. Es kann, darf und wird kein „Impfen, und dann weiter wie zuvor“ geben. 

Umkehr fordert Konsequenzen

Um es mit Papst Franziskus auf den Punkt zu bringen: Diese Wirtschaft, der Kapitalismus tötet! Kehrt um! Ich glaube, wir haben es verlernt, in Zusammenhängen zu denken: Ich kann beispielsweise nicht die Klimakatastrophe bejammern und gleichzeitig vom BER aus nach Teneriffa in den Urlaub fliegen. Das Sars-Cov-2-Virus hatte auch deswegen die Gelegenheit, sich rasant um die gesamte Welt zu verbreiten, weil wir so mobil sind – sei es für den Skiurlaub in Ischgl oder mit neuer Omikron-Variante aus Südafrika. Wir werden uns diesen Wahnsinn, ständig gegen die Regeln unserer Schöpfung zu leben, nicht weiter leisten können und viele von uns wissen oder besser: spüren das auch. Und das mag ein Spiegelbild sein, das uns dieses Virus zeigt. Umkehr fordert Konsequenzen, von uns allen.

Kirchen haben prophetisches Amt

Hier ist nicht der Raum, die Verknüpfung von Impfaufruf mit dem Ruf nach Umkehr theologisch in der Tiefe zu reflektieren und ich fürchte, das würde mir auch gar nicht hinreichend gelingen – wahrscheinlich bin ich kein geeigneter Prophet. Aber das prophetische Amt unserer Kirche sollte auch nicht in Initiativen wie Fridays for Future abwandern. Daher unterstütze ich auch aus eigener Betroffenheit den Impfaufruf unseres Bischofs: Lasst Euch impfen! Und ergänze ihn: Kehren wir endlich um! Es darf kein „Weiter so“ geben!

Pfarrer Alexander Brodt-Zabka hat seit Mitte 2020 einen wöchent­lichen ­spirituellen Podcast „Von guten ­Mächten“, www.gute-maechte.de