Immer mehr Anforderungen – Fachleute für strukturelle Entlastung

Techniken wie Achtsamkeit allein reichen nicht: Angesichts von Arbeitsverdichtung und wachsenden Anforderungen müssen aus Sicht des Historikers Jens Elberfeld gesellschaftliche Probleme angegangen werden. Derzeit versuchten viele Menschen, „mit dem Wahnsinn, der um einen herum passiert, irgendwie klarzukommen, anstatt etwas gegen den Wahnsinn zu unternehmen“, sagte er der Zeitschrift „Psychologie Heute“ (Februar-Ausgabe). Dabei gebe es durchaus „strukturelle Probleme, so dass manches in eine vollkommen falsche Richtung läuft“.

Die Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer bestätigte im Doppelinterview: „Ich arbeite mit dem Individuum an Verhaltensänderungen, damit es mit strukturellen Schwierigkeiten besser umgehen kann. Aber die Rahmenbedingungen selbst ändern sich dadurch natürlich nicht.“ Wenn sich politisch manches bewegen würde, würden Belastungen sicher abnehmen. Derzeit mache sich vor allem Belastung durch die Corona-Zeit und die Kriegsnachrichten bemerkbar.

Insbesondere jüngere Menschen suchten verstärkt nach Hilfe, sagte Glaßmeyer weiter. Sie wüssten: „Ich bin so verzweifelt, dass ich jetzt Hilfe brauche. Wenn ich mir sie jetzt nicht suche, bin ich spätestens im Referendariat so am Ende, dass ich gar nicht mehr arbeiten kann.“

Die Befürchtung, angesichts psychischer Erkrankungen weniger ernstgenommen zu werden oder etwa später keine Verbeamtung zu erhalten, gibt es nach Elberfelds Beobachtung dennoch weiterhin. Aus historischer Sicht sei es ein eher neues Phänomen, dass „prominente und semiprominente Menschen“ sich öffentlich zu ihren psychischen Erkrankungen äußerten: „Es ist fast schon ein Genre geworden, dass Leute über ihren Leidensweg und ihre Heilung Autobiografien schreiben.“

Die Hemmschwellen im Alltag blieben indes riesig, so der Wissenschaftler. Glaßmeyer erklärte, dass solche Publikationen zu einer Sensibilisierung beitragen könnten – und auch zu weniger Stigmatisierung. So sei Alkoholkonsum weithin anerkannt, der Sucht hänge aber „das Klischee vom betrunkenen, willensschwachen Obdachlosen“ an. „Wenn man allerdings dokumentieren würde, was manche Menschen so trinken, würden ziemlich viele nach ICD-10-Kriterien als alkoholabhängig eingestuft.“ Aufklärung sei daher weiterhin gefragt.