Immer gegen den Strom

Es war eine kleine, eher unscheinbare Aktion – aber sie wurde weltberühmt. Am Abend des 24. September 1983 versammelten sich auf dem evangelischen Kirchentag in Wittenberg – damals in der DDR – rund 600 Menschen und schauten zu, wie auf Initiative des Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer der Kunstschmied Stefan Nau in heißer Kohle ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedete. Mit dem symbolischen Akt „Schwerter zu Pflugscharen“ sollte der Wunsch nach Frieden ausgedrückt werden. Auch der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) war dabei, der bundesdeutsche Journalist Peter Wensierski war mit einem kleinen Kamerateam gekommen.

Schorlemmer gehörte zu den prominenten Kritikern des DDR-Regimes. Am 16. Mai wird der Theologe, Publizist und Bürgerrechtler 80 Jahre alt. Geboren wurde er 1944 in Wittenberge in der Prignitz. Als Dozent kam er 1978 ans Evangelische Predigerseminar in die Lutherstadt Wittenberg. Er predigte an Martin Luthers (1483-1546) ehemaliger Wirkungsstätte in der Schlosskirche, an deren Tür der Reformator vor mehr als 500 Jahren die 95 Thesen angeschlagen haben soll, die zum Auslöser der Reformation wurden.

Der Sohn eines evangelischen Pfarrers war unangepasst: Schorlemmer verweigerte als Pazifist den Wehrdienst. Als Pfarrerskind musste er sein Abitur an einer Volkshochschule ablegen. Später studierte er in Halle Theologie. In Wittenberg bildete sich um ihn eine oppositionelle Gruppe, der Wittenberger Friedenskreis. Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ 1983 war ein offener Affront gegen den sozialistischen Staat, es war der Slogan der DDR-Friedensbewegung.

Fünf Jahre später, rund ein Jahr vor dem Mauerfall, legte Schorlemmer gemeinsam mit seiner Friedensgruppe die „20 Wittenberger Thesen“ für eine Demokratisierung der DDR vor: Freie Wahlen, unabhängige Gerichte, Reisefreiheit und die Forderung, dass „die Kommunisten auf das mit Macht ausgeübte Wahrheitsmonopol und auf den prinzipiellen gesellschaftlichen Überlegenheitsanspruch verzichten“ – diese und andere Forderungen waren im Juni 1988 noch eine pure Provokation.

Im Herbst 1989 sah der Theologe Schorlemmer schließlich seine Stunde gekommen. Auf der berühmten Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz war er einer der Redner, engagierte sich in der Partei „Demokratischer Aufbruch“ – und blieb das, was er auch vor der friedlichen Revolution war: unangepasst. Als sich die Partei im Zuge der ersten freien Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 der CDU zuwendete, trat er aus und schloss sich der SPD an. Er war Gegner einer schnellen Wiedervereinigung.

Der Wittenberger Pfarrer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Carl-von-Ossietzky-Medaille, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und das Bundesverdienstkreuz. In höhere Ämter gelangte Schorlemmer allerdings nicht. Von 1990 bis 1994 war er Fraktionsvorsitzender der SPD im Wittenberger Stadtparlament, 1992 wurde er Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wittenberg.

Einer seiner Weggefährten aus dieser Zeit war Eckhard Naumann (SPD), von 1990 bis 2015 Bürgermeister und später Oberbürgermeister von Wittenberg. Kennengelernt haben sich die beiden Anfang der 1980er Jahre in den kirchlichen Friedenskreisen, später wirkten sie gemeinsam in der Wittenberger Kommunalpolitik. Schorlemmer sei immer ein kritischer Beobachter der politischen Verhältnisse geblieben – und das auf einem starken theologischen Fundament, sagt Naumann im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch die neuen gesellschaftlichen Realitäten habe er aus links-protestantischer Tradition heraus bewertet.

So setzte sich Schorlemmer nach 1990 rasch für eine Rehabilitierung der in PDS umbenannten SED ein. 1993 forderte er, die Stasi-Akten zu vernichten, was ihm deutliche Kritik anderer Bürgerrechtler einbrachte. 1999 schloss er sich der Forderung nach einer strafrechtlichen Amnestie für die DDR-Verantwortlichen an. Frieden und soziale Gerechtigkeit hätten für Schorlemmer immer eine zentrale Rolle gespielt, sagt Naumann. Und er sei zeit seines Lebens streitbar geblieben: „Wenn es ihm nicht gepasst hat, dann hat er es deutlich gesagt.“ Das habe ihm nicht immer nur Freundschaften, sondern auch gehässige Anmerkungen eingebracht.

Dass er eine so starke öffentliche Wirkung hatte, sei auch seinem Charisma zu verdanken gewesen, sagt Elke Witt. Die heutige Geschäftsführerin des Vereins WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg gehörte ebenfalls seit den 1980er Jahren zu Schorlemmers Friedenskreis in Wittenberg. „Er war eine Persönlichkeit, die sich in der Öffentlichkeit präsentieren konnte“, sagt sie. Während er vor dem Mauerfall noch Zugpferd der Friedensbewegung gewesen sei, habe seine Ideen von einer eigenständigen DDR später keiner mehr hören wollen.

Mittlerweile ist der mehrfache Vater und Großvater Friedrich Schorlemmer an Demenz und Parkinson erkrankt, lebt in einem Berliner Pflegeheim und äußert sich nicht mehr öffentlich. Für Elke Witt ist das ein großer Verlust. Man brauche solche Menschen, die auch mal etwas sagten, was nicht alle hören wollten: „In der jetzigen Diskussion um Krieg und Frieden fehlt er mir sehr.“