Immer der gleiche Luther-Choral – nur ganz anders

In der Fastenzeit hat Kantor Christian Stähr aus Neubrandenburg ein besonderes Projekt: Jeden Tag spielt er den gleichen Choral in einer anderen Variation. Langweilig wird das überhaupt nicht.

Eine Kamera, ein Mikro und die Orgel der Johanniskirche – mehr braucht Christian Stähr für seine Videos nicht
Eine Kamera, ein Mikro und die Orgel der Johanniskirche – mehr braucht Christian Stähr für seine Videos nichtSophie Ludewig

Neubrandenburg. Sieben Wochen „ohne“ oder sieben Wochen „mit“ – die Fastenzeit lässt sich auf viele Arten gestalten. Kantor Christian Stähr aus Neubrandenburg hat sich für das „mit“ entschieden: Jeden Tag veröffentlicht er auf Youtube eine andere Variation von ein und demselben Choral. Dass dabei keine Langeweile aufkommt, ist dem Komponisten zu verdanken.

Ein bisschen wurme es ihn schon, dass er nicht als Erster darauf gekommen ist, erklärt Christian Stähr. 40 Tage Fastenzeit, 40 Variationen über Martin Luthers Choral „Vater Unser im Himmelreich“ – was würde besser passen? Der Komponist Ulrich Steigleder schrieb die Variationen des Chorals schon 1627. „Ich habe in Stuttgart studiert, wo Steigleder viele Jahre lebte. Während des Studiums bin ich oft auf seine Musik gestoßen, die mich schon damals fasziniert hat“, erzählt Stähr.

„Verdammt, das ist genial!“

Doch die Idee, Fastenzeit und Steigleder zu verknüpfen, hatte zunächst ein anderer. Der niederländische Organist Laurens de Man stellt seit Aschermittwoch jeden Tag ein Video mit einer der 40 Steigleder-Variationen bei Youtube ein. „Als ich das entdeckte, habe ich sofort gedacht: Verdammt, das ist genial! Das will ich auch machen“, erzählt der Kantor der Johannisgemeinde. Und so ist er quasi in einen Wettstreit mit dem Kollegen aus Utrecht getreten. „Ich finde es total spannend zu sehen, wie er die einzelnen Stücke interpretiert und an welchen Stellen wir auseinanderliegen.“

Anders als Laurens de Man tourt Christian Stähr nicht durch verschiedene Kirchen des Landes und holt sich auch keine Begleitmusiker an seine Seite. „Klar, die Videos von Laurens sind viel aufwendiger produziert. Aber letztlich kommt es ja auf die Musik an.“ Und die verdiene einen großen Hörerkreis. „Steigleders Werke sind heutzutage leider wenig bekannt. Dabei ist es eine unglaublich frische Musik, bei der jeder Ton ‚richtig‘ gesetzt ist – das kenne ich sonst nur von Bach“, führt Kantor Stähr aus. „Man kann sagen, dass er geradezu ein moderner Komponist war. In dem Sinne, dass er in der geistlichen Musik alle Emotionen des Menschen zum Ausdruck bringen wollte. Dieser Ansatz war um 1600 relativ neu.“

Und diese Bandbreite an Gefühlen sei auch in den 40 Choralvariationen spürbar, die der württembergische Hoforganist Steigleder 1627 – mitten im Dreißigjährigen Krieg – schrieb. „Jede einzelne hat etwas Besonderes“, betont Stähr. „Die Nr. 16 zum Beispiel ist richtig frech, sehr schnell – da bricht beinahe der Wahnsinn durch.“ Ganz besonders freue er sich auf die letzte Variation, denn „das ist wirklich ein krönender Abschluss, wo der Komponist sein ganzes Können zeigt“.

Musikalischer Vergnügen

Eine Anekdote aus der Überlieferungsgeschichte von Steigleders Noten zeuge ebenso von der hohen Qualität der Choralvariationen: So wurden Auszüge daraus in einem Franziskanerkloster in Wien aufbewahrt. „Wenn sich katholische Mönche für die Musik eines dezidierten Protestanten – noch dazu einen Luther-Choral – interessieren, muss es sich um ein wirklich gutes Werk handeln“, so Stähr.

Für ihn sei die tägliche Beschäftigung mit Steigleders Stücken aber nicht nur ein musikalisches Vergnügen. „Das Projekt ist im Moment ein wichtiger Taktgeber für meinen Alltag – gerade jetzt während der Pandemie, wo die Zeit irgendwie so unförmig dahinläuft.“ Jeden Tag ein Stück aufzunehmen und im Internet hochzuladen habe etwas von einem Adventskalender. „Diese Strukturierung tut gut und hilft einem, sich auf ein großes Fest wie Ostern oder Weihnachten vorzubereiten.“

Warum die Fastenzeit gut tut

Die Fastenzeit erlebt Christian Stähr als eine wohltuende Zeit des Zur-Ruhe-Kommens. „Ich schätze diesen Abschnitt des Kirchenjahres als eine besondere Gelegenheit zum Fokussieren. Nicht als grau und trübsinnig, sondern als im besten Sinne ernsthaft.“