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Im Rhythmus der Gezeiten: 40 Jahre Nationalpark Wattenmeer

Jetzt wird es gefährlich für den Wattwurm: Ein Vogel ist zwar noch nicht in Sicht. Aber eine Garnele steuert auf ihn zu, beißt ihm in den Schwanz. Der Wurm windet sich in der Wattpfütze hin und her, findet aber nicht den Weg in den rettenden Nordseeschlick. Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer hockt in der Mittagshitze im Watt von Westerhever in Nordfriesland, beobachtet die Szene.

„Das Leben an der Küste ist hart“, sagt der Biologe, der seit mehr als 20 Jahren Führungen durch das Wattenmeer entlang der schleswig-holsteinischen Nordseeküste anbietet. „Wer im Wattenmeer überleben will, muss robust sein. Die Bedingungen sind teilweise lebensfeindlich.“ Und damit meint er nicht nur die Fressfeinde, mit denen es Würmer, Krabben und Vogelküken aufnehmen müssen.

Das Wattenmeer, das mit seinem Sand-, Misch- und Schlickwatt, mit Sandstränden und Salzwiesen von dem Rhythmus der Gezeiten abhängt, ist ein besonderer Mikrokosmos. Bei Ebbe zieht sich das Wasser auf ein Drittel der Wattenmeerfläche zurück und gibt für ein paar Stunden den Meeresboden frei. In den verbleibenden Pfützen heizt sich das Wasser im Sommer auf knapp 30 Grad Celsius auf, im Winter frieren sie bei minus10 Grad zu. Extrembedingungen für Flora und Fauna.

Dennoch bietet das Wattenmeer vielen Tieren und Pflanzen eine Heimat. Es leben dort etwa 13.200 Arten, darunter Schweinswale, Austernfischer und Kegelrobben. Einige gelten als Delikatessen: Die Sandgarnelen aus den Wattpfützen landen an den Fischbuden auf dem Krabbenbrötchen. Der Küstenqueller, eine kleine kaktusähnliche Pflanze, die zuhauf auf dem Sandboden wächst, wird auch „Spargel des Meeres“ genannt.

Eine Strandkrabbe bahnt sich im Seitwärtsgang ihren Weg durchs Watt. Als Biologe Borcherding sie fängt, kneift sie ihm mit ihren Scheren einmal kräftig in den Finger. Dann wird sie ganz ruhig. Die Sonne knallt auf ihren Panzer. „Ihr fehlt das Wasser“, erklärt der Biologe und setzt das Tier wieder in eine Pfütze.

Kurz vor dem Wahrzeichen Westerhevers, dem schmucken rot-weißen Leuchtturm, beginnen die Salzwiesen. Sie sind eine Errungenschaft von Naturschutz-Maßnahmen. Der Kieler Landtag erklärte das Wattenmeer vor 40 Jahren, am 22. Juli 1985, zum Nationalpark. Am 1. Oktober 1985 trat das Gesetz in Kraft. Das Wattenmeer war in Gefahr, in der Nordsee schwamm viel Müll, Pflanzen- und Tierbestände schwanden.

Der Naturschutz nahm Fahrt auf. So wurden etwa die Flächen, die direkt hinterm Deich liegen und fast nur bei Sturmfluten unter Wasser stehen, nicht mehr beweidet. Es entwickelte sich ein neuer Lebensraum. Zehn bis zwölf Millionen Zugvögel kommen im Frühjahr und Herbst zum Rasten. Im Mai brüten mehr als 100.000 Paare Seeschwalben, Möwen, Watt- und andere Küstenvögel in den Salzwiesen und Dünen der Nordseeküste. Schmale Wasserläufe, sogenannte Priele, ziehen sich durch die Wiesen. Manche erinnern an einen versumpften Gartenteich. Borcherding: „Das ist Algenrasen. Der produziert soviel Sauerstoff wie ein Buchenwald.“

Mit 4.400 Quadratkilometern ist der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer der größte zwischen dem Nordkap und Sizilien. Er reicht von der deutsch-dänischen Seegrenze im Norden bis hin zur Elbmündung im Süden – und dient vielen Menschen als Naherholungsgebiet. 2018 nahmen allein 140.000 Besucherinnen und Besucher an geführten Wattwanderungen teil. Das gesamte deutsch-niederländische Wattenmeer, zu dem auch die Nationalparks in Niedersachsen und Hamburg gehören, wurde 2009 aufgrund seiner Einzigartigkeit von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt.

Bei seiner Wanderung durch die Salzwiesen findet Borcherding einige blaue Schnüre, die aus der Fischerei stammen und von der letzten Sturmflut angespült wurden. Mit den sogenannten Dolly Ropes wollen die Fischer Netzschäden auf steinigen Untergründen verhindern. Immer wieder reißen sie aber von den Netzen ab und landen im Meer.

„Jährlich sterben allein auf Helgoland rund 50 Brutvögel, weil sie die Schnüre als Nistmaterial verwenden und sich am Ende in ihnen verfangen“, erklärt Borcherding. Für ihn ist es ein Unding, dass Dolly Ropes in der Fischerei noch nicht verboten sind. Er kritisiert zudem, dass immer noch Pestizide im Nationalpark gespritzt werden dürfen, gegen Disteln etwa.

Der einzigartige Lebensraum Wattenmeer ist weiterhin bedroht. Die Populationen vieler Fische, Pflanzen und Vögel gehen zurück, wie Forschende der Universitäten Oldenburg und Groningen jüngst herausfanden. Sie stellten fest, dass etwa die Bestände des Atlantischen Kabeljaus und der Plattfische abnahmen, ebenso die vieler Muscheln, Schnecken, Seegras und Salzwiesen. Zu den Gewinnern gehören Neuankömmlinge wie die Pazifische Auster oder die Amerikanische Schwertmuschel.

Auch der ansteigende Meeresspiegel macht dem Wattenmeer zu schaffen. Jedes Jahr wird das Watt vor der schleswig-holsteinischen Nordseeküste 30 Meter schmaler. „Wenn das so weiter geht, verliert das Wattenmeer bis Ende des Jahrhunderts ein Drittel seiner heutigen Fläche. Damit fände dann auch ein Drittel der Zugvögel keine Nahrung mehr“, sagt Borcherding. Das Geburtstagskind bleibt auch ein Sorgenkind.