„Ich bin eine Malerin, die Lieder schreibt“
Sie sitzt im Sessel auf der Bühne und singt mit unverwechselbarem Charisma, auch wenn die Stimme mittlerweile etwas tiefer geworden ist: Joni Mitchell genießt es sichtlich, wieder vor großem Publikum aufzutreten. Das Newport Folk Festival in Rhode Island im vergangenen Jahr war ihr erster öffentlicher Auftritt seit 20 Jahren. Die kanadische Songwriterin und Musikern, die als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre gilt, hat sich nach einem schweren Schlaganfall zurück ins Leben gekämpft. Am 7. November wird sie 80 Jahre alt.
„Ihre Songs haben bis heute nichts an ihrer Intensität eingebüßt“, sagt der Kurator des Gronauer Rock’n’Pop-Museums, Thomas Mania, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Im Klang ihrer Musik scheine sie innere Bilderwelten zu durchschreiten. Beim Newport Folk Festival habe die 79-jährige Mitchell, die in ihrem Leben ständig mit gesundheitlichen Defiziten zu kämpfen gehabt habe, trotz ihrer Gebrechlichkeit eine Bühnenpräsenz mit einer Aura entfaltet, „die nur den wirklich großen Virtuosen des Genres vorbehalten ist“.
„Ich bin eine Malerin, die Lieder schreibt. Meine Songs sind sehr visuell“, erklärte Mitchell vor wenigen Jahren. In ihrer Kunst verwischte sie Grenzen und schuf unverwechselbare Songwelten. Sie begann als Folksängerin, spielte später mit Jazz-Größen wie dem Bassisten Charles Mingus oder dem Pianisten Herbie Hancock zusammen. Auch gegenüber Pop und Rock hat sie keine Berührungsängste.
Beim Ranking der „100 größten Songwriter aller Zeiten“ des Musikmagazins „Rolling Stone“ belegt sie den neunten Platz. 1997 wurde sie in die „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenommen. Ihre Alben „Ladies of the Canyon“ (1970), „Blue“ (1971) oder die vom Jazz beeinflussten „Hejira“ (1976) und „Mingus“ (1979) gelten noch heute als Meilensteine.
Ihr wohl berühmtester Song „Both Sides Now“ soll laut ihrer Homepage mehr als 1.600-mal gecovert worden sein, darunter von Frank Sinatra und Annie Lennox. Auch Bob Dylan, Prince oder Elvis Costello spielten ihre Songs. Janet Jackson ließ in ihrem Stück „Got ‚til its Gone“ Samples von Mitchells Hit „Big Yellow Taxi“ einspielen. Und Landsmann Neil Young, mit dem sie eine lange Freundschaft verbindet, widmete ihr einen eigenen Song: „Sweet Joni“.
Ihren charakteristischen schwebenden Sound der Gitarrenklänge erreicht sie mit dem sogenannten „Open Tuning“, bei dem alle Saiten so gestimmt werden, dass sie auch ohne Greifen als Akkord klingen. Diese Technik erlernte sie, weil ihr infolge einer Erkrankung an Kinderlähmung das Greifen von Akkorden schwerfiel. „Ich musste die Akkorde für die linke Hand vereinfachen“, erklärte sie einmal. „Aber ich sehnte mich nach Akkordfolgen, die ich mit der Standard-Stimmung nicht ohne eine extrem gelenkige linke Hand erreichen konnte.“
Geboren wurde sie 1943 als Roberta Joan Anderson im ländlichen Fort Macleod in der kanadischen Provinz Alberta. Mit ihrem ersten Ehemann, dem Folksänger Chuck Mitchell, zog sie Mitte der 1960er Jahre in die USA, wo beide ihre Musikkarrieren voranbringen wollten. Die Ehe wurde nach wenigen Jahren geschieden, aber Joni Mitchell war fortan immer an den Hotspots der kulturellen Gegenbewegung zu finden. Sie tingelte durch die Cafés des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village, in denen wenige Jahre vorher ein junger zersauster Folksänger seine Karriere gestartet hatte: Bob Dylan.
Beim Woodstock-Festival 1969 sagte Mitchell zwar ab, weil sie ihren ersten Auftritt in der landesweit ausgestrahlten Dick Cavett-TV-Show nicht durch eine Terminüberschneidung riskieren wollte. Ihre Bewunderung für die Kultur des Festivals verarbeitete sie aber in der gleichnamigen Hymne, die als Coverversion von Crosby, Stills, Nash & Young ein großer Hit wurde. Sie spielte auch auf dem legendären „Isle of Wight“-Festival„ im Jahr 1970, begleitete Bob Dylan bei seinem fahrenden musikalischen Wanderzirkus “Rolling Thunder Revue„ (1975) und spielte auf dem feierlichen Abschiedskonzert von “The Band„ (“The Last Waltz“, 1976).
Ende der 1960er Jahre zog sie in die legendäre Künstlerkolonie Laurel Canyon in Los Angeles, in der die Musiker von Crosby, Stills, Nash &Young und von „The Mamas and the Papas“ lebten, ebenso wie Frank Zappa und John Mayall. Ihre Alben aus dieser Zeit, wie „Ladies from the Canyon“, machten sie zum Superstar. Graham Nash, der bei ihr zwischenzeitlich eingezogen war, feierte die gemeinsame Zeit mit ihr in seinem Song „Our House“. Ihre Beziehungen und Trennungen, etwa von Künstlerkollegen David Crosby, James Taylor, Leonard Cohen oder Jackson Browne, verarbeitete Mitchell immer wieder zu großer Kunst.
In späteren Jahren wandte sie sich phasenweise von der Musik ab und widmete sich stärker der Malerei. Nach einem schweren Schlaganfall durch ein Aneurysma im Gehirn im Jahr 2015 musste sie erst mühsam wieder das Gitarrenspielen lernen, wie sie in einem Interview berichtete. Doch auch dieser Rückschlag konnte sie nicht unterkriegen: Sie habe schon die Kinderlähmung überwunden, erklärte sie. Jetzt sei sie wieder an diesem Punkt: „Und wieder kämpfe ich mich zurück!“