Hundert Jahre und das Geschenk des Lebens

Sie warfen sich in Schale und saßen auf ihrem Lieblingssessel: Der Kieler Fotograf Bernd Bünsche hat Hundertjährige porträtiert. Warum ihn die Gespräche tief berührt haben.

Ingeborg S. aus Reinfeld bei Lübeck ist 105 Jahre alt
Ingeborg S. aus Reinfeld bei Lübeck ist 105 Jahre altBernd Bünsche / epd

Kiel. Friedrich U. aus Kiel-Holtenau mag nicht mehr. Er kann schlecht laufen, ist fast blind und viel allein. "Alt werden ist schön. Aber so alt werden nicht." Der ehemalige Kapitän ist einer von 40 über Hundertjährigen, die der Kieler Bernd Bünsche für eine Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) 2019 in Schleswig-Holstein fotografiert hat. Die Gespräche mit den Porträtierten haben ihn tief berührt. Denn vielen von ihnen falle es nach einem aktiven Leben schwer, einfach nur noch da zu sein.
Bünsche fotografiert sie alle in schwarz-weiß, im Querformat und immer in ihrem Lieblingssessel. Auf manchen Fotos sieht man im Hintergrund einen Rollator, auf anderen Porzellanpuppen auf der Sofalehne oder Bilder an der Wand. Die einen blicken melancholisch aus dem Fenster, andere lächeln fröhlich in die Kamera. Die meisten sind geistig fit. Nur einen Hundertjährigen traf Bünsche im Bett an. Alle anderen saßen ihm gegenüber.

Vorher extra zum Friseur

Viele warfen sich für ihn in Schale, in Anzug oder Blazer, die Frauen legten Schmuck an. Eine Dame ging vor dem Fototermin extra zum Friseur. Gezeichnet vom Leben sind sie alle. Die heute Hundertjährigen hatten ein turbulentes Leben. Sie sind die letzten, die noch im Ersten Weltkrieg geboren wurden, den Nationalsozialismus überlebten und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauten.  
Sichtlich bewegt blättert Bünsche – aus Sicht der Hundertjährigen mit 74 noch ein Jungspund – durch seine Porträt-Sammlung. Ingeborg S. aus Reinfeld bei Lübeck hat ihn besonders beeindruckt. Die 105-Jährige ist promovierte Germanistin, war Lehrerin. Heute wird sie von ihrer Tochter liebevoll zu Hause betreut, vermisst aber ihre Selbstständigkeit. Als sie Bünsche verabschiedet, zitiert sie ein Gedicht von Friedrich Hölderlin: "Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen. Die Jugendstunden sind, wie lang, wie lang verflossen. April, Mai und der Junius sind ferne. Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne."
Solche Sätze machen Bünsche nachdenklich. "Ich glaube, unsere Gesellschaft steht erst am Anfang der Diskussion über ein selbstbestimmtes Sterben", sagt er. Wenn jemand lieber heute als morgen sterben wolle, müsse man das ernst nehmen. Einer habe zu Bünsche gesagt: "Das Leben ist ein Geschenk. Aber es gibt Geschenke, die man lieber ablehnen möchte."

Eine besondere Aura

Zu den Hundertjährigen kam er zufällig. 20 Jahre lang war der Kieler Chefrestaurator für Gemälde auf Schloss Gottorf in Schleswig. Im Ruhestand entdeckte er seine Leidenschaft für Fotografie. Bei einer seiner Ausstellungen wurde er angesprochen, ob er nicht eine Serie über die alten Herrschaften machen wolle. 100 Porträts sollten es werden. Bünsche wollte. 
Alle hundertjährigen Menschen, die er traf, haben eine besondere Aura, strahlen Ruhe und Abgeklärtheit aus, wie er erzählt. Viele hängen mit ihren Gedanken in der Vergangenheit, nehmen aber auch teil am Tagesgeschehen. Soweit es ihnen möglich ist, lesen sie noch Zeitung und Romane, gehen einkaufen und treffen sich mit Freunden und Angehörigen. So wie Margarethe S. (101) aus Lübeck, die jeden Sonnabend mit dem Bus zu ihrer Tochter fährt, um mit ihr zu frühstücken.
Die Hochaltrigen sind heute geistig und körperlich fitter als diejenigen früherer Generationen, belegte 2013 eine repräsentative Untersuchung von Forschern der Universität Heidelberg. Demnach empfinden die meisten Hundertjährigen ihr Leben als lebenswert, mehr als 80 Prozent sind mit ihrem Leben zufrieden.  

Im Mittelpunkt für eine Stunde

Bundesweit gibt es knapp 17.000 Menschen, die 100 Jahre oder älter sind. Wie das Rostocker Max-Planck-Institut schätzt, hat sich die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren verzehnfacht. Die Forscher fanden heraus, dass Menschen in Ballungszentren wie Berlin und Hamburg, aber auch im Nordwesten Deutschlands die größten Chancen haben, besonders alt zu werden.  
Manche haben Bünsche nach seinem Besuch gebeten, wiederzukommen. "Wenn ich da bin, stehen sie eine Stunde lang im Mittelpunkt. Das haben viele nicht oft." Drei der Porträtierten sind nach seinem Besuch bereits gestorben, zwei Männer und eine Frau. 
Ob er selbst gern so alt werden will? Bünsche legt die Porträtfotos zur Seite und schaut einen Moment lang aus dem Fenster. Dann lächelt er kurz und sagt: "Nein, ich glaube nicht." (epd)