Zerrupft, verschüchtert und geschwächt von der industriellen Bodenhaltung – so kam Huhn “Henni” ins Leben von Julia Schneider. Für sie ist die ehemalige Legehenne eine Botschafterin der Hoffnung.
Für Ostern schnell noch ein paar Eier im Supermarkt besorgen oder gleich die Gefärbten kaufen – das wird Julia Schneider* nicht mehr machen. Vor knapp zwei Jahren hat sie erstmals zwei ausgediente Legehennen aus industrieller Haltung übernommen, die sonst geschlachtet worden wären. Die 45-Jährige kann sich noch gut erinnern, wie sie die beiden “zerrupften, verschüchterten, stinkenden und geschwächten Tiere” im Juli 2023 in Empfang nahmAndere gerettete Hühner mussten sofort tierärztlich versorgt werden, weil sie Knochenbrüche und offene Wunden hatten. “Wir waren schockiert, dass so was in Deutschland legal ist.”
Die Hennen hatten mit ihren eineinhalb Jahren bislang nur Kunstlicht, Dreck und Stress erlebt – zu neunt zusammengepfercht auf einem einzigen Quadratmeter, sagt die Hühnerhalterin. “Schwache Tiere erreichen Futter und Wasser oft nicht mehr und sterben deshalb.” Also alles andere als ein artgerechtes Leben, etwa mit erhöhten Ruheplätzen und Sandbädern im Freien. Schneider kommen noch immer die Tränen, wenn sie sich an das erste Sonnenbad der beiden geschundenen Kreaturen erinnert – und deren Reaktion auf die allerersten Sonnenstrahlen auf ihrem zerfledderten Gefieder. “Hühner lieben es, sich zu sonnen; sie legen sich in den Staub und strecken alle Federn von sich”, sagt die Hühnerfreundin. “Wenn man sieht, wie diese Tiere aufblühen, sind das natürlich tolle Momente.”
“Henni” und ihre Gefährtin “Jolante” mussten im neuen Gehege erst einmal zu Kräften kommen und mit den vier anderen Hühnern der Familie die Hackordnung klären. “Henni”, die in ihrem bisherigen Leben nicht gelernt hatte zu rennen oder zu springen, verletzte sich dabei am Bein und humpelt seitdem. “Jolante” musste später aufgrund eines Legedarmtumors – eine typische Folge der kräftezehrenden Legehaltung – eingeschläfert werden. Für einen Tierarztbesuch fährt Schneider schon mal 200 Kilometer. “Hühner werden nur von sehr wenigen Tierärzten behandelt”, die Kosten seien ähnlich hoch wie bei Hunden oder Katzen, sagt die Hagenerin.
Sie ist eine von rund 2.300 Menschen, die über den Verein “Rettet das Huhn” ausgediente Legehennen übernehmen. 62 aktive Mitglieder des Vereins vermitteln diese Tiere ehrenamtlich. Üblicherweise werden sie am Ende ihrer Nutzungsdauer mit etwa eineinhalb Jahren geschlachtet. “Die Tiere sind Abfall der Eierproduktion”, sagt Stefanie Laab vom Vorstand des Vereins. Die Betriebe würden sie sonst zum Schlachthof geben und dafür einen Preis von 20 bis 40 Cent pro Tier bekommen.
Rund 45 Millionen Legehennen in industrieller Bodenhaltung gibt es allein in Deutschland. Etwa 10.000 von ihnen bekommen wie “Henni” und “Jolante” auf diese Weise jedes Jahr die Chance eines artgerechten Lebens bei sachkundigen Privatpersonen. “Wenn man sieht, wie kaputt die Tiere aus den Ställen rauskommen, dann zählt jeder Tag in Freiheit und guter Haltungsform – selbst wenn sie nur noch drei Monate zu leben haben.”
Hühner und ihr ausgeprägtes Sozialleben haben es Schneider schon immer angetan. Um erste Erfahrungen mit eigener Haltung zu sammeln, zogen im Herbst 2022 vier Leihhühner bei ihr ein. “Mein Sohn hat ihnen sofort Namen gegeben – da war klar, das wird eine längere Sache werden”, erinnert sie sich und schmunzelt. Ihr Junge sei ein Dinosaurier-Fan gewesen, und ihn habe die enge genetische Verwandtschaft zwischen dem Tyrannosaurus rex und Hühnern fasziniert. Als die Familie erfuhr, dass die vier Leihhühner spätestens im Frühjahr geschlachtet werden sollten, fiel die Entscheidung, die Tiere selbst zu übernehmen.
In diesem Sommer möchte Schneider drei weiteren Hennen eine Chance geben, wenn im Sauerland ein vergleichsweise kleiner Stall mit 1.300 ausgedienten Tieren geräumt werden soll. Andere Betriebe hätten zigtausende Hennen, und in den USA seien sogar Legebetriebe mit über einer Million Tieren keine Seltenheit, weiß Schneider. Aber auch punktgenau für 1.300 Tiere ein neues Zuhause im näheren Umkreis zu finden, sei für den Verein “Rettet das Huhn” eine Herausforderung, weiß Schneider. Denn den geschwächten Tieren sollen lange Transportwege erspart werden.
Schneider weiß, dass so eine Hühnerrettung mit Blick auf 45 Millionen Legehennen allein hierzulande nicht mehr als Tropfen auf den heißen Stein ist. “Man ändert mit dem einen gerettetem Tier nicht unbedingt die Welt, aber für dieses Tier macht es den Unterschied.” Henne “Henni” wäre ohne Tierarzt und privater Zuwendung längst “anonym in der Masse gestorben”.
Neben Tierliebe motivieren Schneider auch Schuldgefühle: “Alle konsumieren gedankenlos Eier aus Bodenhaltung”. Sie selbst esse inzwischen möglichst keine Eier mehr. Zugleich räumt sie ein, dass es sehr schwierig sei, ganz ohne Eier zu leben: “Viele Impfstoffe basieren auf Ei-Basis, in vielen Lebensmitteln sind Ei-Anteile versteckt, und auch bei einem Restaurantbesuch kann man nicht sicher sein.”
Ausgemusterten Hennen ein neues Leben zu schenken, sieht sie als eine “Art Schadensausgleich, den wir gegenüber den Hühnern leisten können; so können wir Tieren, die für uns gelitten haben, noch etwas Gutes tun”. Denn wenn diese die auszehrende Zeit des Turbo-Eierlegens überstünden, können Hennen bis zu neun Jahre alt werden, weiß die Hühnerhalterin. Die meisten lebten nach ihrer Rettung noch ein paar Jahre.
“Henni” ist längst in ihrem neuen Leben angekommen. “Sie ist sehr gesprächig und kuschelig und liebt es, auf das Sofa zu klettern und sich streicheln zu lassen.” Die Henne sei ein Familienmitglied; mit ihrem Humpelbein lebe sie glücklich vor sich hin. In ihrem Gehege ist sie inzwischen die Chefin der Hennengruppe, hat sich nach dem Überlebenskampf im Stall zu einem fürsorglichen Tier entwickelt “und achtet auf die anderen”.
Schneiders Sohn sei stolz auf seine ungewöhnlichen Haustiere. Auch Freunde und Bekannte der Familie kämen gerne zu Besuch, um die Hennen zu sehen. Solche Kontakte sieht Schneider als “eine Chance, anders auf diese Nutztiere zu schauen”. Für sie ist jedes gerettete Huhn ein Botschafter. Diese Tiere zu sehen, “das macht was mit den Menschen, sie treffen andere Einkaufsentscheidungen”.