Buch „Königskinder“: Zwei Liebende, getrennt von den Nazis

Fünf Jahre lang sehnte sich der Greifswalder Jude Rudolf Kaufmann in den 1930er Jahren nach der Schwedin Ingeborg Magnusson. Die Nazis stahlen ihm die Liebe seines Lebens.

Dieser Stolperstein liegt vor dem Gebäude, in dem zu Rudolf Kaufmanns Zeiten das Geologisch-Mineralogische Institut lag, seine Arbeitsstätte.
Dieser Stolperstein liegt vor dem Gebäude, in dem zu Rudolf Kaufmanns Zeiten das Geologisch-Mineralogische Institut lag, seine Arbeitsstätte.Sybille Marx

Das Wasser in den Kanälen glitzert, die Kuppeln des Markusdoms leuchten, doch der Geifswalder Geologe Dr. Rudolf Kaufmann hat an diesem Sommertag 1935 in Venedig nur Blicke für sie: die 28-jährige Schwedin Ingeborg Magnusson. Einen Tag zuvor hat er sie in Bologna kennen gelernt. Im Halbdunkel eines Kirchturms zieht der „wilde Mann“, wie der 26-jährige Rudolf sich später in Anspielung auf diese Liebkosungen nennt, die blonde Inge an sich, zerkratzt ihr bartstoppelig das Gesicht, küsst sie, als gäbe es kein Morgen – und als wüssten sie beide, was für ein Schicksal ihnen bevorsteht. Ungefähr so beschreibt es der Autor Reinhard Kaiser in seinem Buch „Königskinder.“ (Buchhinweis s. unten)

Ein Stolperstein, ein kleines Messingquadrat im Bürgersteig der Greifswalder Löfflerstraße 23 d, erinnert an eben diesen Rudolf Kaufmann. „Jahrgang 1909“, steht auf diesem Stein vor dem ehemaligen Geologisch-Mineralogischen Institut, Kaufmanns Arbeitsstätte in den 30er Jahren. Darunter: „Ermordet von den Nazis“. Im November vor rund zehn Jahren sind alle Stolpersteine in Greifswald, damals elf, gewaltsam aus dem Pflaster herausgebrochen wurden. Auch dieses Quadrat war verschwunden, mit ihm Kaufmanns Name. Heute glänzt es wieder im Asphalt. Und Kaufmanns Geschichte kann erzählt werden.

Viele der Liebesbriefe, die dieser Mann zwischen 1935 und 1941 an seine „lilla kaere Inge“ schrieb – die „kleine liebe Inge“- sind bis heute erhalten. Zeile für Zeile erzählen sie das Schicksal eines jüdischen Wissenschaftlers, dem die Nazis die Liebe seines Lebens stahlen.

Liebesbriefe bei einer Auktion ersteigert

Bei einer Auktion 1991 in Frankfurt am Main waren 39 dieser Briefe aufgetaucht. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser ersteigerte sie, weil er in ihnen Stoff für einen Roman witterte. Er begann zu recherchieren, verwarf den Plan einer fiktiven Verarbeitung und zeichnete schließlich tief berührt in einer Text- und Brief-Collage die Geschichte von Rudolf und Inge nach. „Königskinder – eine wahre Liebe“, heißt sein Buch, das 1996 im Schöffling Verlag erschien.

„Königskinder“ nennt Kaufmann sich und Inge in Anspielung auf das Lied „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten nicht zusammen kommen, das Wasser war viel zu tief.“ Inge lebt in Schweden, Rudolf in Italien, als sie sich das erste Mal begegnen, beschreibt Kaiser. Zwischen ihnen liegt ein Meer von Hindernissen, das die Nazis errichteten. Denn Kaufmann gilt wegen seiner jüdischen Vorfahren als Jude, obwohl er evangelisch getauft ist und sich nie als Jude fühlte. Nicht ganz freiwillig hat er Greifswald bereits 1933 verlassen.

Schon einen Tag nach den Küssen in Venedig muss Inge erstmal zurück nach Stockholm, in ihren Arbeitsalltag bei einer Versicherung. Rudolf Kaufmann wünscht sich ab sofort sehnlichst, er könnte statt in Bologna wieder in Greifswald arbeiten. 1932 hatte er hier als Geologe an der Uni eine Doktorarbeit über die Entwicklung fossiler Gliederfüßer geschrieben – „mit Auszeichnung“, wie die vergilbten, zerfransten Zeugnisse im Greifswalder Universitätsarchiv belegen. Doch gleich 1933, als die NSDAP die ersten Gesetze gegen Juden verabschiedete, verlor er seine Assistentenstelle. Dass er klug, akribisch und mit Leidenschaft arbeitete, wie seine Prüfer in den Unterlagen beschreiben, war plötzlich nichts mehr wert.

Weihnachten 1935: Tage wie im Himmel

Kaufmann, den der Schriftsteller Kaiser als unerschütterlichen Optimisten zeichnet, versucht es trotzdem: Im August 1935 besucht er in Greifswald seinen alten Professor, vielleicht, um eine Rückkehr vorzubereiten. Das ernüchternde Ergebnis: „Er wagte es nicht einmal, mich in dem Institut zu empfangen“, schreibt Rudolf. „Inge, mein liebstes Pudelkind, ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, daß ich Dir da oben auf S. Luca einen Kuß gab…“

Was anfangs nur ein vager Wunsch war – die junge Schwedin wieder zu sehen und in ihr den „Kamerad fürs Leben“ zu finden – wird für Rudolf Kaufmann offenbar zum Lebenstraum, zur Obsession. Inges Briefe an ihn sind nicht erhalten, aber aus seinen an sie wissen wir: Hartnäckig, aber immer verzweifelter versucht er in den nächsten Jahren, beruflich irgendwo auf der Welt Fuß zu fassen, damit sein Ingelein dort mit ihm leben könnte.

Ein Ausschnitt aus dem Cover des Buchs "Königskinder - eine wahre Liebe"
Ein Ausschnitt aus dem Cover des Buchs "Königskinder - eine wahre Liebe"Schöffling Verlag

Aus Bologna geht Kaufmann vorerst zurück in seine Geburtsstadt Königsberg in Preußen. Für Oktober 1935 findet er dann im thüringischen Coburg eine Stelle als Sportlehrer an einer jüdischen Schule, wie er seinem Mädchen jubelnd telegrafiert. Und kurz zuvor reichen Geld und Gelegenheit tatsächlich für ein erstes Wiedersehen in Stockholm. Die Briefe danach verraten es: Diese fünf Tage zu zweit waren der Himmel auf Erden. Auch zu Weihnachten 1935 kosten Rudolf und Inge noch einmal für ein paar Tage das Glück der Verliebten aus.

Rudolf Kaufmann wird 1936 von den Nazis festgenommen

Dann brechen vier zermürbende Jahre an. Denn als Kaufmann im August 1936 wieder nach Stockholm reisen will, wird er festgenommen. Über eine Woche lang wartet Inge besorgt auf Nachricht, dann kommt ein Brief aus der Untersuchungshaft Coburg. „Liebes Ingelein, ich muß Dir einen unendlich großen Kummer bereiten…“, schreibt Rudolf. Vor Monaten habe er eine Nacht mit einer deutschen Frau verbracht und sich dabei eine Geschlechtskrankheit eingehandelt. Der Arzt zeigte ihn daraufhin an. „Rassenschande“, titelt nun die Coburger Zeitung; denn als Jude hat Kaufmann nach geltendem Gesetz das Blut einer Deutschen „verunreinigt“. Die Uni Greifswald, die offiziell informiert wird, erkennt ihm aus diesem Grund den Doktortitel ab. „Ich bin Deiner nicht mehr wert“, schreibt Rudolf seiner Inge.

Doch die hält an ihm fest. Und die drei Jahre Haft übersteht Kaufmann erstaunlich gut, wie Kaiser beschreibt: In der Ruhe der Zelle denkt der Geologe seine Doktorarbeit weiter, paukt englisch, treibt Sport und wärmt sein Herz an der Hoffnung, als freier Mann mit Inge bald nach Australien auswandern zu können. Sein Bruder in London bereitet alles vor.

Doch nach der Entlassung im Oktober 1939 schwindet Brief für Brief Kaufmanns Zuversicht. Die Welt ist nun im Krieg, die Reise nach Australien unmöglich geworden, wie der Autor Reinhard Kaiser erklärt. Und selbst härteste Arbeiten wie die im Straßenbau darf Kaufmann als Jude nicht mehr übernehmen, überall fallen Türen vor ihm zu. Er fürchtet, in ein Arbeitslager abgeschoben zu werden und flieht im Dezember 1939 nach Litauen, wo eine deutsch-jüdische Familie ihn aufnimmt. Dass er hier auf Kosten Anderer leben muss, während seine selbstbestimmte Zukunft in immer weitere Ferne rückt, nimmt Kaufmann wohl den letzten Mut.

Ingeborg Magnusson heiratet nie

Vier Jahre lang haben er und Inge sich nicht mehr gesehen, haben sie nur noch gehofft, geplant, geträumt. „Das Leben ist ja so bitter für uns beide“, schreibt Rudolf Kaufmann nun im Juli 1940 und schlägt seiner Inge vor, den Traum von der gemeinsamen Zukunft doch endlich zu begraben.
Noch im Dezember desselben Jahres heiratet Kaufmann in Vilnius eine Emigrantin und wird wenig später von deutschen Soldaten erschossen, wie Reinhard Kaiser recherchierte. Ingeborg Magnusson heiratet nie und stirbt 1972.

Die Uni Greifswald hat den Wissenschaftler Rudolf Kaufmann im Jahr 2000 offiziell rehabilitiert. Und die Evangelische Studentengemeinde und der Arbeitskreis Kirche und Judentum ließen vor gut 15 Jahren einen Stolperstein für ihn legen. So wird hin und wieder vielleicht jemand auf die Geschichte der beiden Königskinder stoßen – die Geschichte eines Paars, das nie eins sein durfte.

Buchhinweis: Reinhard Kaiser: „Königskinder. Eine wahre Liebe“