Der Advent spielt mit Licht und Dunkel. Draußen regiert die Winternacht, aber viele Kerzen hier und dort verkünden, dass sie irgendwann ein Ende haben wird. Diese äußere Spannung spielt sich auch im Innern vieler Menschen ab. Advent ist eine Zeit, die man gemeinsam mit anderen erleben möchte und in der man das eigene Alleinsein umso stärker spürt. Licht und Dunkel, Gemeinschaft und Einsamkeit sind die Leitmotive der vier Wochen, die zum Christfest führen, bei dem dann dieser Gegensatz für viele Menschen ganz besonders schmerzlich spürbar wird.
Es ist seltsam, dass wir eine globale Epidemie gebraucht haben, bis wir endlich in der Lage waren, öffentlich und ohne falsche Scham über Einsamkeit zu sprechen. Das immerhin „verdanken“ wir Corona, dass dieses drückende Tabu gebrochen wurde. Seither wird viel mehr – und dies häufig auf gutem Niveau – über Einsamkeit geschrieben und gesendet, erzählt und diskutiert. Das ist nur zu begrüßen. Denn Einsamkeit betrifft keineswegs nur einzelne, vermeintlich schwierige Personen oder ausgewählte Problemgruppen, sondern geht uns alle an, jeden und jede von uns.
Advent: Einsamkeit kann jeden treffen
Einsamkeit ist längst ein Massenphänomen geworden, in allen Schichten, Milieus und Altersgruppen gegenwärtig. Dabei kann sie die unterschiedlichsten Gesichter tragen. Es gibt die Einsamkeit auf dem Land und in der Stadt, in der Jugend und im hohen Alter, unter Männern und Frauen. Da sind das gehänselte Kind, der unpopuläre Teenager, die Studentin im ersten Semester in der fremden Stadt, der Migrant ohne Deutschkenntnisse, die alleinerziehende Mutter, der Dauerpendler, der Künstler ohne Erfolg, die überarbeitete Leistungsträgerin, der Ehemann, der seine Frau pflegt, die Hochbetagte im Heim, die keinen Besuch bekommt, und ungezählte Einzelne mehr. Hinter jeder Einsamkeit steht eine einmalige Geschichte.
Doch gibt es allgemeine Faktoren, die Einsamkeit auslösen oder befördern: Krankheit, Behinderung, Sucht, mangelnde Mobilität und Infrastruktur, vor allem Armut. Prekär sind Lebenswenden: der Abschied von der Schule, der Eintritt in Ausbildung und Studium, später der Verlust des Arbeitsplatzes oder des Ehepartners. Es kann und wird irgendwann jeden treffen – also auch einen selbst. Deshalb ist es so wichtig zu wissen, wie Einsamkeit entsteht, wie sie sich anfühlt und auswirkt, aber auch, was aus ihr herausführt.
Alleinsein kein Unglück
Wer über etwas Lebenserfahrung verfügt, weiß das alles längst. Einsamkeit gehört zum Leben dazu, manchmal unvermeidlich, manchmal notwendig: Wir müssen uns aus alten Bindungen lösen, um neue eingehen zu können. Wir müssen es mit uns selbst allein aushalten können, um dann auch gut mit anderen eine Gemeinschaft zu bilden. Deshalb muss eine Phase des Alleinseins kein Unglück darstellen. Es geht ja auch nie darum, ob wir mit vielen oder wenigen Menschen in Kontakt stehen, sondern um die Qualität unserer Beziehungen, auch unserer Beziehung zu uns selbst.

Doch wenn das Alleinsein zu lange dauert und kein Ausweg sichtbar ist, kann Einsamkeit einen dauerhaften Schmerz auslösen, wie bei einer schweren Krankheit. Das ist eine persönliche Tragik, aber auch ein gesellschaftliches Problem. Denn sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil isolierte Menschen eher dazu neigen, radikale, destruktive Parteien zu wählen.
Schöne Momente aktiv suchen
Deshalb sind Zeiten und Orte so wichtig, an denen ein gutes Für-sich-sein und eine gute Gemeinschaft möglich sind. Der Advent kann beides bieten: eine Zeit der Einkehr, der stillen Besinnung, auch der versonnenen Erinnerung an die, mit denen wir verbunden waren. Aber auch: ein Besuch in der Nachbarschaft, ein Gespräch bei einer schönen Tasse Tee, ein Bummel über den Weihnachtsmarkt in einer fröhlichen Gruppe, ein Treffen mit der Familie, um zusammen zu backen, oder ein Gang in die Kirche, um gemeinsam zu singen. Denn das Leben entfaltet sich, wenn man ihm je für sich auf den Grund geht. Und, wenn man es mit anderen teilt. Solche Momente des guten Für-sich-seins und des Mit-anderen-seins sind wie Lichter, die das Dunkel durchbrechen.
Johann Hinrich Claussen ist der Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
