Hoffen auf ein blaues Wunder

Fußballsorgen? Ein Gespräch mit dem Schalke-Pfarrer über den Umgang mit Enttäuschungen – im Fußball wie im Leben.

Eigentlich wäre die Corona-Pandemie mit allen Konsequenzen schon genug Krise. Die Menschen müssen sich einschränken, auf vieles verzichten – zum Beispiel auf Großereignisse wie den Besuch eines Konzertes oder Fußballspiels. Für die Fans von Schalke 04 kommt noch einiges dazu: 30 Spiele nacheinander kein Sieg, Häme in den Medien und dann der Tönnies- Skandal. Steigt der Fußballverein ab in die zweite Liga, könnte das fatale Folgen haben. Schalke-Pfarrer Ernst-Martin Barth erlebt viel Not in den Gesprächen, die er mit Menschen in Gelsenkirchen führt. Not, die längst nicht nur mit Fußball zu tun hat. Mit Karin Ilgenfritz spricht er darüber.

Manche Menschen schütteln verständnislos den Kopf, wenn sie sehen, wie sehr Fußball-Fans zum Beispiel unter verlorenen Spielen leiden. Können Sie das nachvollziehen, was in Fans vorgeht?
O ja. Gerade hier in Gelsenkirchen hat die Mitgliedschaft im Fußballverein eine große Tradition. Eltern melden oft schon ein Neugeborenes als Mitglied im Verein an. Viele Menschen hier wachsen ganz selbstverständlich mit Schalke auf, es ist Teil ihrer Identität. Das wird an Sätzen deutlich wie: „Ich geh auf Schalke – schon seit immer.“ Oder: „Schalke – wir leben dich.“ Schalke 04 ist die fußballerische Verlängerung des Bergbaus. Gerade die Älteren haben den Rückbau miterlebt. Sie hoffen: Auch wenn die Zechen schließen, Schalke bleibt.

Dann ist der Fußball eine Art Ersatz für …
Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Aber auch nicht mehr. Er gibt Kraft und Gemeinschaft. Schalke ist ein Kumpel- und Malocherclub. Ein Kumpel ist einer, der mitgeht. Der mit mir teilt. Gelsenkirchen hat seit Jahren die höchste Arbeitslosigkeit in Deutschland. 40 Prozent Armut. Da kann so ein Fußballverein schon durchaus Sinn und Halt geben.

Dementsprechend schrecklich ist es dann für die Fans, wenn der geliebte Club 30 Spiele lang ohne Sieg bleibt und vom Abstieg in die 2. Bundesliga bedroht ist.
Der Abstieg könnte die Existenz des Vereins in Gefahr bringen. Und damit auch jede Menge Arbeitsplätze. Schalke ist mit rund 600 Arbeitsplätzen der zweitgrößte Arbeitgeber in Gelsenkirchen. Leider auch mit 240 Millionen Euro verschuldet. Die Fans müssen viel aushalten. 2019 gab es den Rassismusvorwurf an den Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies und letztes Jahr den Skandal in seinem Betrieb. Er ist dann zurückgetreten, um dem Verein nicht mit seinen Problemen zu schaden. Das alles hat das Vertrauen in den Verein angeknackst. Die Menschen haben Angst, dass der Verein seine Seele verliert.

Aber wie kann das Menschen so sehr beschäftigen, dass sie deswegen regelrecht in eine Krise geraten?
Meistens ist das nur ein Aspekt von mehreren. Wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme, ist Schalke oder Corona das erste Thema. Aber wenn wir etwas länger sprechen, kommen die Themen dahinter zur Sprache. Da ist die Existenzangst der Friseurin oder des Taxifahrers. Streit in der Familie. Die Probleme bei der Kinderbetreuung. Die Unsicherheit und Perspektivenlosigkeit. Manche sind verzweifelt, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht.

Was sagen Sie den Menschen?
Erst mal lasse ich sie reden und höre zu. Es gibt da keine pauschalen Antworten. Manchmal erzählt jemand von früheren Krisen. Dann frage ich nach, wie es damals weiterging. Dann wird ihm klar, was er schon alles geschafft hat. Das macht Hoffnung, dass es auch diesmal eine Lösung geben wird. Ein Vers aus Psalm 103 gefällt mir in diesem Zusammenhang: Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Es ist eine große Kraftquelle, daran zu denken, was man schon alles geschafft hat und was Gott uns in seiner Güte immer wieder schenkt.
Außerdem glaube ich, dass wir in schweren Zeiten Geduld brauchen. Im Römerbrief geht es auch um Not und Bedrängnis, die Geduld erfordert. Nicht aufgeben, sondern hoffen, dass es besser wird.

Das setzt voraus, dass die Person etwas mit dem Glauben anfangen kann.
Nein. Ich bin Pfarrer, das wissen die meisten und somit wissen sie, dass ich möglicherweise von Gott spreche. Außerdem erlebe ich, dass Menschen gerne in die Kapelle auf Schalke kommen. Auch wenn sie sonst vielleicht distanziert zu Glaube und Kirche stehen, es wohnt eine Sehnsucht in ihnen. Die Atmosphäre dort, eine Kerze anzünden, Andachten halten – all das tut ihnen gut. Und dann ergeben sich Gespräche mit großer Offenheit.
Zum Beispiel kam eine Tochter mit ihrer krebskranken Mutter, die lange nicht über die Krankheit sprechen konnte. Der Raum der Kapelle hat etwas in der Mutter gelöst. Sie begann zu weinen und wir haben lange geredet. Oder ein verzweifelter Mann – ich wusste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte. Ich habe ihn erzählen lassen. Als er ging, schien er noch immer verzweifelt. Und ich ratlos. Am nächsten Tag stand er vor meiner Tür und bedankte sich. Ich hätte ihm so sehr geholfen, es sei ihm nachts klar geworden, wie es weitergehen kann.
 
Welche Rolle spielt der Fußball bei den Gesprächen?
Ganz oft ist das Thema Schalke 04 der Türöffner. Ich bin selbst Fan, kann bei vielem gut mitfühlen. Meine Hoffnung ist es, dass der Verein gestärkt aus der Krise hervorgeht. Ich bin da schon zuversichtlich. Es ist einiges schiefgelaufen. Aber das ist jetzt auch eine Chance, alles auf den Prüfstein zu stellen und den Verein wieder in ein solides Fahrwasser zu bringen. Ich hoffe, dass wir die Wende schaffen.

Das klingt nach Seelsorge für den Fußball.
Ganz genau. Ist es auch. Es werden Fehler gemacht. Es geht jetzt darum hinzusehen und dann gute Entscheidungen zu treffen. Eine Art Bußzeit ist dran – das Wort Buße kommt von „besser machen“. Einfach schauen: Was hilft mir, damit etwas besser werden kann? Das trifft auch auf den Fußball zu. Aber vor allem auf unser Leben.