Höfisches Dorfleben mitten in der Stadt
Expertengruppe für Sonderpädagogik besuchte in Bochum die Matthias-Claudius-Gesamtschule und die Claudius-Höfe. Ihr Fazit: emutigende Beispiele inklusiven Lernens, Lebens, Wohnens und Arbeitens
Einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden der Pädagogischen Institute und Katechetischen Ämter (ALPIKA AG) „Sonderpädagogik in Schule und Gemeinde“, um sich auszutauschen und Ideen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Schule, Gemeinde und Gesellschaft kennenzulernen und zu reflektieren. Die ALPIKA AG „Sonderpädagogik in Schule und Gemeinde“ ist ein Zusammenschluss von Dozentinnen und Dozenten sowie Studienleitender der religionspädagogischen Institute beziehungsweise Akademien oder Zentren der evangelischen Kirchen in Deutschland. In diesem Jahr standen Hospitationen in Bochum in der Matthias-Claudius-Gesamtschule und der Claudius-Höfe im Mittelpunkt des Treffens.
Lern- und Lebensform, wie sie sich viele wünschen
In der Schule überzeugte eine alltagsgerechte Praxis, eine durchgängige Identifizierung mit dem Gedanken der Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit Handicaps, eine hochgradige Differenzierung mittels Lernbüro und Logbuch sowie ein hoher Anspruch an die Lehrkräfte beim Arbeiten im Lernbüro bei einem hohen Anteil von Förderschülern und der Notwendigkeit, Unselbstständige zu fördern.
Besonders beeindruckend war im Weiteren die Hospitation der Claudius-Höfe. Ein Dorf mitten in der City von Bochum, wie ein kleines Kunstwerk, ein paar Schritte vom Hauptbahnhof entfernt. Ein Stadtquartier, eine Lebensform, wie es sich viele wünschen. Ein außergewöhnliches Wohnkonzept, mit dem NRW-Innovationspreis ausgezeichnet — und immer noch ein Geheimtipp.
Familien in Stadthäusern, Studierende in Wohngemeinschaften, Menschen mit Handicaps in Wohngemeinschaften oder Wohnungen, ältere Menschen in altersgerechten Wohnungen – für alle ist Platz. Knapp 200 Menschen leben in den „Höfen“ und dies nicht einfach neben-, sondern miteinander. Gemeinsame Aktivitäten, gemeinsame Arbeit etwa im Gewächshaus, gemeinsame Feiern, gemeinsame Mahlzeiten, gegenseitige Hilfe, wenn nötig.
Eine funktionierende Dorfstruktur mit dem Marktplatz als Treffpunkt, einem Restaurant, einem Café, einem Saal für Gemeinschaftsfeste, einer kleinen Kapelle. Kleine Betriebe, neben Café und Restaurant das Büro für leichte Sprache der Lebenshilfe Bochum, ein Friseur, ein Hotel. Die Claudius-Höfe sind offen für Kunden und Gäste.
Angefangen hat es 2004, als sich Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Handicaps fragten: Wo sollen diese Kinder später wohnen? Wo sollen sie arbeiten? Besucht hatten sie bis dahin die Matthias-Claudius-Schulen, zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen ohne offensichtliche Handicaps. Konnten Wohn- und Beschäftigungsmöglichkeiten jenseits von Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Wohnheime entwickelt werden?
Mit dieser Frage stand die Idee eines Wohnquartiers für gemeinsames Wohnen und Arbeiten im Raum. Man entdeckte ein zentrales Gelände – der ehemalige Bochumer Fuhrpark war wie geschaffen für das Projekt. Eine Stiftung wurde gegründet, die großzügige Unterstützung fand. Das Projekt konnte beginnen.
Beeindruckende Konzeption und vielseitiges Angebot
Der Wunsch, Menschen mit Behinderung die Chance auf einen vollwertigen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu bieten, wurde durch die Villa Claudius, eine gemeinnützige GmbH als Integrationsunternehmen, realisiert. Am 4. Mai 2009 startete Villa Claudius mit dem operativen Betrieb: Drei Kernbereiche werden abgedeckt: Hotel und Gastronomie, Handel und Dienstleistungen. Mittlerweile werden das Hotel Claudius, das Marktcafé und mehrere Mensen wie die Finanzamtskantine Bochum-Süd, die Mensa in der Matthias-Claudius-Gesamtschule, die Gastronomie im Schauspielhaus Bochum und ein Catering-Service betrieben. Etwa 25 Prozent der Beschäftigten haben eine Schwerbehinderung.
Die Mitglieder der ALPIKA AG „Sonderpädagogik in Schule und Gemeinde“ zeigten sich sehr beeindruckt von der Konzeption und dem vielseitigen Angebot sowie der positiven Ausstrahlung der begleitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Schön wäre es, wenn es mehr von diesen ermutigenden Projekten inklusiven Wohnens und Arbeitens gäbe“, war die einhellige Meinung.