Historiker zu ForuM-Studie: Zahlen sind nur „die Spitze des Eisbergs“

Die Ausmaße sexuellen Missbrauchs innerhalb der evangelischen Kirche könnten nach Worten des Kirchenhistorikers Thomas Großbölting deutlich größer sein als bislang angenommen. Die in der im Januar veröffentlichten ForuM-Studie genannten 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Täter seien lediglich „die Spitze des Eisbergs“, sagte Studien-Mit-Autor Großbölting am Freitag vor der in Stuttgart tagenden Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

Rechne man die gesichteten Personal- und Disziplinarakten hoch, könne man von 9.300 Betroffenen und 3.500 Beschuldigten ausgehen. Das sei nicht mehr oder weniger als in anderen Bereichen der Gesellschaft auch, so Großbölting weiter. Statistisch gesehen sei der durchschnittliche mutmaßliche Täter innerhalb der evangelischen Kirche etwa 40 Jahre alt, verheiratet und wird mit mehreren Taten in Verbindung gebracht. Sexualisierte Gewalt innerhalb der evangelischen Kirche ist laut Großbölting ein Männerproblem. Auch unter den Opfern seien mehr Jungen als Mädchen. Das Durchschnittsalter der Betroffenen liegt laut Studie bei elf Jahren.

Zu den Rahmenbedingungen, die Missbrauch innerhalb der evangelischen Kirche ermöglichen, gehört nach Großböltings Worten ein „protestantischer Klerikalismus“, der das Amt des Pfarrers überhöht. Hinzu komme das Selbstbild der „besseren Kirche“, in der es Missbrauch nicht gebe. Um Missbrauch vorzubeugen, brauche es eine verbindliche Umsetzung fachlicher Standards für die gesamte evangelische Kirche und die Diakonie. Zudem solle eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet werden. Auch in der Ausbildung sämtlicher kirchlicher Berufsgruppen müsse das Thema verankert werden.

Am 25. Januar hatte der unabhängige Forschungsverbund ForuM im Auftrag der EKD und der Diakonie eine Studie über Risikofaktoren und Ausmaß sexualisierter Gewalt vorgestellt. Die Forscher fanden Hinweise auf mindestens 2.225 Betroffene und mindestens 1.259 mutmaßliche Täter, die tatsächliche Zahl der Betroffenen dürfte der Einschätzung zufolge deutlich höher liegen. Zudem attestierten die Forscher eine „Verantwortungsdiffusion“, ein problematisches Amtsverständnis bei Pfarrern und die Diskreditierung von Betroffenen, die die Gewalt gegen sie öffentlich machten. (0583/15.03.2024)