Historiker Roman Köster über alten Abfall und modernen Müll

Manchmal gibt es Aussagen, die haften bleiben nach einem Gespräch. Dazu gehört der Satz: „Mittlerweile bin ich überzeugter Müllhistoriker.“ Eher durch Zufall ist Roman Köster zu seinem Forschungsgegenstand gekommen: im Rahmen eines Projekts an der Universität Glasgow zur britischen und deutschen Müllgeschichte. „Als ich damit angefangen habe, haben mich viele meiner Freunde schon etwas schräg angeguckt“, räumt er im Telefonat mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) ein. Das wird ihm jetzt möglicherweise seltener passieren. Denn soeben ist sein äußerst lesenswertes Buch „Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit“ im Verlag C.H. Beck erschienen.

KNA: Herr Köster, wenn ich morgens meinen Müll runterbringe, habe ich schon seit längerem den Eindruck, dass wir zwar viel über Abfallvermeidung reden, in Wirklichkeit aber immer mehr Müll produzieren. Ist das eine gefühlte oder eine tatsächliche Wahrheit?

Köster: Das ist tatsächlich so. Die Müllmengen sind in den 1950er bis 1970er Jahren sehr stark angestiegen. Danach, ungefähr seit Mitte der 80er Jahre, stagnierten sie. Mit dem Versandhandel haben die Abfälle nochmal ganz massiv zugenommen. Das ist ja auch klar: Wenn Sie bei Amazon und Co bestellen, kriegen Sie ja nicht nur die Verpackung des Produkts, sondern auch gleich noch zusätzlich ein Paket.

KNA: Dann lüge ich mir also in die Tasche, wenn ich sage: Immerhin fahre ich für meine Einkäufe nicht in die Stadt und tue deswegen etwas Gutes für die Umwelt.

Köster: Der Fahrer fährt ja dafür zu Ihnen. Da zeigt sich das ganze Problem des modernen Mülls: Sie dürfen nicht nur von sich selbst ausgehen, sondern müssen immer auch die gesamte Logistik dahinter betrachten.

KNA: Jetzt werden manche Menschen resignieren: Alles so komplex und so schwierig, da kann ich als Einzelner ja gar nichts machen. Aber vielleicht haben Sie trotzdem ein paar vernünftige Tipps, wie sich Müll vermeiden lässt.

Köster: Ich muss immer dazu sagen, dass ich kein Experte für Müllvermeidung bin, sondern Historiker. Neuere Studien zeigen, dass wir durch individuelles Verhalten bis zu 20 Prozent Müll reduzieren können.

KNA: Immerhin – und wie ginge das?

Köster: Indem Sie zum Beispiel im Supermarkt verpackungsarm einkaufen. Interessant finde ich, dass in manchen Städten die in öffentlichen Toiletten anfallenden Fäkalien gesammelt und als Dünger aufbereitet werden. Ein Konzept, das eigentlich jahrhundertealt ist.

KNA: Was uns in die Vergangenheit führt und zu einem geflügelten Wort der Alten Römer: Pecunia non olet – Geld stinkt nicht. Müll aber sehr wohl. Hand aufs Herz: In welche Epoche würden Sie aus rein geruchstechnischen Gründen auf keinen Fall wiedergeboren werden wollen?

Köster: Schwierig. Zunächst einmal gehe ich natürlich mit meinem modernen Geruchsinn an die Vergangenheit. Um bei den Alten Römern zu bleiben: Die werden sich irgendwann daran gewöhnt haben, wie es in ihrer Stadt gerochen hat. Aber auch damals gab es viele Beschwerden über den Gestank. Manch einer beklagte sich, dass man in den Straßen und Gassen stets Gefahr lief, den Inhalt eines Nachttopfs über den Kopf geschüttet zu bekommen.

KNA: Keine schöne Vorstellung.

Köster: Generell gilt für die Vergangenheit: Wenn die Leute eng zusammenwohnten, in hohen Häusern, noch dazu mit Tieren, dann roch es schlecht, und der Abfall wurde zu einem besonders großen Problem. Das war im Alten Rom so, aber zog sich auch durch das gesamte Mittelalter.

KNA: Konnten unsere Vorfahren dem Recycling schon etwas abgewinnen?

Köster: Grundsätzlich haben in der Vormoderne in der Regel die Armen so etwas gemacht. Sammeln, Reparieren, Wiederverwerten, Wiederverkaufen. Irgendwie mussten sie über die Runden kommen. Das ist heute noch so in vielen Ländern des Südens.

KNA: Aber?

Köster: Es gibt immer wieder überraschende Fälle von Recycling, der durch adligen Überkonsum entsteht.

KNA: Wie das?

Köster: Im Absolutismus etwa stiegen die Ansprüche an die Lebenshaltung der Upper Class deutlich an. Am französischen Königshof in Versailles mussten Adelige immer die neueste Silberdose besitzen. Viele konnten sich das aber nicht leisten. Was machten sie also? Sie verkauften das alte Silberdöschen. Dadurch entstand ein ganz bemerkenswerter Gebrauchtwarenhandel mit Luxusgegenständen.

KNA: Erstaunlich.

Köster: Ein anderes Beispiel aus derselben Epoche: Unter den Damen von Welt waren mit Goldfäden durchwirkte Kleider en vogue. Die glänzten dann, wenn das Licht auf sie fiel. Allerdings waren diese Goldfäden sehr teuer. Und deswegen fingen adelige Frauen an, den ganzen Tag in der Nähstube zu sitzen und die Goldfäden aus den alten Kleidern herauszuziehen und in kleinen Säckchen für ein neues Kleid zu sammeln. Diese Praxis bezeichnete man als Parfilage.

KNA: Welche Rolle spielten Religionen bei den Themen Müll, Schmutz und Sauberkeit?

Köster: Über lange Zeit war Hygiene ein Elitenphänomen. Das machten halt die besseren Leute, und die grenzten sich dadurch vom Plebs in der Stadt ab. Aber daneben gibt es Faktoren, die dazu führten, dass Hygienevorstellungen universeller wurden. Eine solche Entwicklung findet man häufig dort, wo verschiedene Religionen aufeinander prallen.

KNA: Wie ging so etwas vonstatten?

Köster: Der Islam etwa hat, um sich vom Juden- und Christentum im Nahen Osten abzugrenzen, sehr ausgeprägte Hygienevorstellungen entwickelt. Das wiederum fanden später Christen, die zum Beispiel Konstantinopel besuchten, total merkwürdig: Warum waschen die sich so häufig, sind die verrückt? Einen Hygienewettbewerb hatte man freilich auch zwischen Protestanten und Katholiken. Dabei beschrieben sich die Protestanten als die saubereren Zeitgenossen. Für mich waren derartige Gegenüberstellungen ein bisschen gewöhnungsbedürftig: Ich bin selber Katholik.

KNA: Wir sind die Schmuddelkinder!

Köster: Ja, es gibt so calvinistische Vorzeigegesellschaften wie die Holländer, die immer ihre Häuser geschrubbt und ihre Straßen gefegt haben. Die schauten gern verächtlich herab auf die ihrer Meinung nach schmutzigeren Katholiken. Aber ich würde dann doch ein bisschen Wasser in den Wein gießen wollen.

KNA: Warum?

Köster: Solche Formen von Eigenwahrnehmung mögen konfessionelle Identitäten gestärkt haben. Aber sie entsprachen sicher nicht immer der Realität.