Historiker Mendel: Israelis anhaltend traumatisiert

100 Tage nach dem Angriff der Hamas-Terroristen erlebt der Historiker Meron Mendel Israel als anhaltend traumatisiert. „Was passiert ist, hat gerade die Menschen in Israel getroffen, die sich für Frieden und Versöhnung eingesetzt haben“, sagte der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt nach Rückkehr von einer Israel-Reise im Interview auf tagesschau.de. Die Hamas habe nicht die Armee oder die Siedler angegriffen, sondern „die Kibbuzim und Dörfer an der Grenze zum Gazastreifen, die dafür bekannt sind, dass sie Teil des Friedensbewegung sind“. Dadurch sei vielen Israelis klar geworden, dass die Hamas alle Juden in Israel ermorden wolle.

Nach den Worten von Mendel bedeuten die Ereignisse für viele Israels eine Retraumatisierung. Viele Ältere hätten erleben müssen, dass ihre Angehörigen vor ihren Augen von den Nazis ermordet wurden. Solche Familientraumata hätten sich bei den Angriffen der Hamas wiederholt. „Für viele Menschen sind die Angriffe vom 7. Oktober deshalb ein weiteres Glied in der langen Kette von Verfolgung und Pogromen“, sagte der Wissenschaftler und Buchautor.

Mendel räumte ein, dass die Israelis die Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung und die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen kaum wahrnähmen. „Ich habe den Eindruck, dass es den meisten Menschen noch sehr schwerfällt, Empathie für das Leiden der Zivilisten auf der anderen Seite zu entwickeln“, sagte er. Das sei einerseits nachvollziehbar, aber zugleich falsch: „Weil man sich dann wieder in einer sehr verengten Sicht auf den Konflikt verschanzt. Das verspricht aber keine Lösung des Problems, sondern eher die Fortsetzung der Gewalt.“

Der Historiker verwies auf eine „bittere Enttäuschung“ vieler Israelis insbesondere über das linke Spektrum in Europa und den USA. Es habe mit großer Kälte auf die Gewalt gegen Israel reagiert. „Dazu gehört auch, dass trotz des großen Ausmaßes von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt am 7. Oktober Frauenrechtsorganisationen stumm geblieben sind.“ Das führe zu dem Eindruck, dass es für die internationalen Frauenorganisationen nicht zähle, wenn jüdische Mädchen und Frauen in dieser Form vergewaltigt würden.

Aus Sicht Mendels haben die Angriffe der Hamas und der Krieg in Gaza den zuvor beobachteten Bruch in der israelischen Gesellschaft nur kurzfristig überlagert. „Viele Israelis, die vor dem 7. Oktober noch im Lager von Netanjahu und seinen Verbündeten waren, sind nach dem 7. Oktober in das andere Lager gewechselt.“ Die Umfragewerte der Regierung seien derzeit nicht sehr erfreulich; Netanjahu spiele deshalb auf Zeit.

Der Historiker betonte, weder die Hamas noch Netanjahu hätten Interesse an einer langfristigen politischen Lösung. Das Geschäftsmodell der Hamas bestehe darin, erneut aufzurüsten und neue Tunnel zu bauen. „Insofern ist Netanjahu für sie der perfekte Partner. Denn seine Strategie ist, dass die Spaltung der Palästinenser zwischen der Fatah-Bewegung im Westjordanland und der Hamas im Gazastreifen andauert.“

Mendel kritisierte, dass weder auf der palästinensischen noch auf der israelischen Seite über langfristige politische Lösungen gesprochen werde. Bei keiner Sitzung des israelischen Kabinetts sei das politische Ziel des Krieges definiert worden. „Deshalb ist es Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, den Israelis klar zu sagen: Ein Krieg ohne politisches Ziel, ohne eine Vision ist kein legitimer Krieg.“

Aus seiner Sicht gebe es nur eine tragbare Lösung, sagte Mendel. „Und das ist eine gemeinsame Regierung von Westjordanland und Gaza unter der Führung der palästinensischen Autonomiebehörde.“