Historiker Kowalczuk kritisiert Staatsverständnis im Osten

Es gibt viele Versuche, das Wahlverhalten der Ostdeutschen von ihrer Erfahrung her verstehen zu wollen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hält nichts davon. Er kritisiert ein falsches Staatsverständnis im Osten.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat genug davon, ostdeutsches Wahlverhalten empathisch erklären zu wollen. “Transformationserfahrungen, Protest, der Osten wird zu wenig gehört… ganz ehrlich, ich kann das alles nicht mehr hören”, sagte der gebürtige Ostberliner am Freitag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin.

Aus seiner Sicht ist es ein falsches Staatsverständnis, welches ostdeutsche Wähler in die Arme von AfD und BSW treibt. “Wir haben im Osten ein anderes Staatsverständnis als im Westen. Darüber müssen wir reden!” Viele Ostdeutsche, die AfD oder BSW gewählt haben, würden dem Staat eine “geradezu väterliche Fürsorgefunktion” zumessen, ist der 57-Jährige überzeugt. “Der Staat wird dadurch aber überfordert, woraus der gleichzeitige Hass auf ihn und die Ablehnung des Staates resultiert.”

Ebenso kritisiert der Historiker eine fehlende Kritikbereitschaft vonseiten des Westens, wenn die DDR von ostdeutschen Autoren wie Jenny Erpenbeck verklärt werde. “Sie sagt in Interviews Dinge, welche Westler tief verstören müssten, nämlich: Im Westen gibt es keine Hoffnung; es war toll, an der Mauer aufzuwachsen; nur im Osten konnte man in eine Zukunft mit Visionen schauen … solche Aussagen werden heutzutage wohlwollend als Folklore hingenommen, doch wenn man das tut, dann nimmt man auch hin, dass unsere Demokratie immer beliebiger wird.”

Kowalczuk sorgte in jüngster Zeit für Aufsehen mit einer von der Kritik sehr gelobten zweibändigen Biographie des SED-Politikers Walter Ulbricht. Im Sommer erscheint sein neues Buch “Freiheitsschock. Eine Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute”.