Historiker Clark veröffentlicht brillantes Buch über 1848
Von Paris bis Palermo erheben sich Menschenmassen. Die Revolution von 1848 brach wie ein Tsunami los. In einem brillant geschriebenen Buch zeigt Christopher Clark, warum sie Europa veränderte.
Wie ein Tsunami sei sie losgebrochen. „Es hatte vor allem etwas mit dem Zusammenbruch der Angst zu tun.“ So beschreibt der Historiker Christopher Clark in seinem neuen Buch die Revolution von 1848, die sich in diesem Jahr zum 175. Mal jährt. Es war ein Völkerfrühling, den der Autor mehrfach mit dem „arabischen Frühling“ vergleicht, der ab 2010 ein arabisches Land nach dem anderen ansteckte.
Clark sieht zugleich viele – eher bedrohliche – Parallelen zu heutigen Entwicklungen: Die damaligen Herrschaftssysteme seien nicht zusammengebrochen, weil sie durch Feinde gekapert worden seien. Vielmehr hätten die alten monarchischen Systeme in einer schwierigen Umbruchphase ihre Legitimität verloren.
Es hatte sich vieles zusammengebraut in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: starkes Bevölkerungswachstum, Missernten, Hunger, Vorboten der Industrialisierung und ein zutiefst inkompetenter Obrigkeitsstaat, der die Armen fürchtete, statt ihnen zu helfen. All das erzeugte ein Gefühl des bedrohlichen Wandels oder schlichter Wut, das sich 1848 entlud. „Erstaunlich, wie schnell die Macht sich verflüssigen kann“, schreibt Clark auch mit Blick auf die heutige Situation, den Populismus und das Erstarken rechter Parteien in ganz Europa. „Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, die Menschen von 1848 könnten sich unter uns wiederfinden.“
Für den Experten des 19. Jahrhunderts ist 1848 zugleich „die einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte“. Im Gegensatz zur Französischen oder Russischen Revolution fanden die Ideen von 1848 von Paris aus in zahlreichen europäischen Ländern zeitgleich Anklang. Nicht nur in Wien und Berlin. Es gab auch revolutionäre Aufstände etwa in Ungarn, Neapel und im Kirchenstaat, wo nach der Flucht des Papstes im November 1848 eine kurzlebige Römische Republik ausgerufen wurde.
„Die Menschen waren damals mental vernetzt, und sie dachten im europäischen Rahmen auf eine Weise, die wirklich auffallend ist. Sie waren vielleicht sogar europäischer als die Europäer von heute“, konstatiert der Autor. In ganz Europa sei der Ruf nach Verfassungen, nach Versammlungs- und Pressefreiheit, nach Wahlrechtsreformen und Bürgerwehren laut geworden, schreibt Clark in seinem brillant geschriebenen und auch für Nicht-Spezialisten gut lesbaren 1.000-Seiten-Werk.
Auf die Frage von Erfolg oder Misserfolg der Revolution gibt der Professor für Neuere Europäische Geschichte in Cambridge keine eindeutige Antwort. Die Monarchien verteidigten die Macht. Die revolutionäre Bewegung zersplitterte in radikale Demokraten und bürgerliche Liberale, die die Macht durchaus mit den alten Autoritäten teilen wollten. „Als die Liberalen die Demokraten als Kommunisten verunglimpften und die Radikalen die Parlamente der Liberalen lächerlich machten, inszenierten sie eine der zentralen Tragödien von 1848.“
Doch laut Clark waren die Folgen von 1848 deutlich vielschichtiger. „Die Welt nach 1848 ist eine ganz andere Welt als die Welt davor“, schreibt er. Die politischen Systeme und Ideen veränderten sich. Es gab Parlamente an vielen Orten, liberal konzipierte Verfassungen oder solche, die vom Staat wie zum Beispiel Preußen oktroyiert wurden, aber viel liberales Gedankengut in sich aufnahmen.
1848 war auch eine Ideenschmiede. Sehr bildhaft vergleicht der Historiker die Situation mit einem Teilchenbeschleuniger: Gruppierungen und Ideen flogen hinein, prallten aufeinander, verschmolzen oder zersplitterten und traten dann in Formen heraus, die die Gesellschaften bis heute prägen. Politische Ideen von Sozialismus und bis zum Liberalismus gewannen Kontur. Dass der eigentlich ultrakonservative Bismarck als späterer Reichskanzler die Sozialversicherungen einführte, führt Clark auf diese Lernphase zurück.
Auch die katholische Kirche und das Papsttum von Papst Pius IX. sieht der Historiker durch diese Revolution von Grund auf verändert. Eine monarchische, ganz auf Rom zentrierte Kirche, die Herausbildung eines katholischen Milieus, neue Frömmigkeitsformen: „Die heutige katholische Kirche ist in vieler Hinsicht die Frucht dieses Moments.“