„Hier wird das Leben gefeiert“

Stefan Weiller sammelt „Letzte Lieder“ – Lieder, von denen ihm Sterbende im Hospiz erzählen und die er zu einem bewegenden Projekt zusammenfügt. Es verbreitet keine Trauerkloß-Stimmung, sondern zeigt das pralle Leben

Photographer: marc bartolo

Es wird gelacht, geklatscht, geweint und geschmunzelt – so vielfältig wie das Leben ist auch die Palette der Emotionen, die das Publikum in der Kölner Kirche St. Agnes an diesem Abend erfährt. Die zweitgrößte Kirche Kölns ist voll, so voll, dass viele Menschen stehen müssen und dennoch gebannt bis zum Ende des zweieinhalbstündigen Abends ausharren. Und obwohl es um den Tod geht, ist die Stimmung keineswegs bedrückt oder traurig, im Gegenteil. Am Ende tanzt die ganze Kirche – „Let‘s twist again“.

Das Leben und der Tod sind vielfältig

„Dies ist keine Totenfeier, hier wird das Leben gefeiert“, sagt Christoph Maria Herbst hinterher. Der Schauspieler und Comedian liest regelmäßig bei den Projekten von Stefan Weiller – Texte, die Weiller nach Gesprächen mit den Sterbenden im Hospiz aufschreibt. Sie zeigen, wie vielfältig das Leben und der Tod sind. Weiller kombiniert sie nach Ansicht von Herbsts Kollegin Annette Frier zu einem „absolut außergewöhnlichen“ Projekt.
„Genießen Sie‘s“, rät etwa Ute, Mitte 60, im Hinblick auf das Leben in einem Text. Sie erzählt von ihrem bewegten Leben, in dem nicht wenige Männer eine Rolle gespielt haben. Sie tut das mit einer geradezu lakonisch anmutenden Nüchternheit und nennt am Ende die Arie „Madamina, il catalogo e questo“ aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Giovanni“ als ihr „Letztes Lied“: eine Arie, in der die akribisch notierten Frauengeschichten eines Lebens- und Liebeskünstlers aufgezählt werden. Eine Wahl mit durchaus ironischer Pointe.
Der studierte Sozialpädagoge und Innenarchitekt Weiller hat als Journalist für renommierte Medien geschrieben, zuletzt war er als Pressereferent für Caritas und Diakonie tätig. Doch irgendwann hat er alles auf eine Karte gesetzt, gekündigt, und sich fortan nur noch seinen Herzens­projekten gewidmet. Inspiriert und ermutigt dazu hat ihn die Begegnung mit einer Frau im Hospiz: „Diese Frau wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hat. Wir saßen beieinander, entdeckten Gemeinsamkeiten, haben uns den Spiegel vorgehalten. Da gab es ganz viele Schichten in ihrem Leben, die sie nie zugelassen hat.“
Getrieben wird er von einer steten „Lust an der Begegnung“ und einer großen Leidenschaft für sein Projekt. „Ohne wäre das nicht zu machen“, denn oft drängt die Zeit. In der Regel erhält Weiller Anfragen von den Hospizen, die er besucht. Innerhalb von 48 Stunden versucht er dann zu kommen und seine Gesprächspartner zu treffen. „Es geschieht mitunter, dass der Mensch es nicht schafft, bis ich ankomme, oder dass das Gespräch nur fünf Minuten dauert.“ Die „Deadline“, für den Journalisten Weiller ein sehr vertrauter Begriff, bekommt hier eine ganz andere, existenzielle Dimension. Doch eigentlich geht es bei diesem Projekt nicht um den Tod, auch wenn die äußeren Umstände durch diesen bestimmt werden, sondern um das Leben.
Das Projekt sorgt seit 2013 bundesweit für volle Kirchen. Weiller ist der Organisator dieser Abende, die zumeist in Zusammenarbeit mit Hospizen veranstaltet werden. Er hat ein Konzept dafür entwickelt, das immer wieder an den jeweiligen Anlass und an die Ausführenden angepasst wird. Er arbeitet dabei mit einem festen Stamm an Musikern, aber auch mit lokalen Künstlern und Chören zusammen. „Zuerst gibt es oft Skepsis. Wenn aber erst mal das Eis gebrochen ist, merke ich, dass die Chöre sehr viel Spaß haben. Im Kontext des Projektes wird zudem oft erst richtig hinterfragt, was man da eigentlich singt. Und danach singen es die Leute ganz anders.“

Sicht auf den Tod von tiefer Zuversicht geprägt

Musikalisch bieten die Abende ein Spektrum, das so „bunt wie das Leben“ ist, wie Christoph Maria Herbst es ausdrückt: Rock, Pop, Oper, Klassik, aber auch Bauchtanz, Volkslieder und Chormusik. Am Ende steht immer das schwedische Volkslied „Uti var hage“. Das handelt von Blumen und Beeren, von Liebe und der „Freude des Herzens“.
Und davon bekommen die Besucher dieser Abende ganz viel zu spüren. „Ich gehe immer reicher aus solchen Abenden raus als ich reingekommen bin“, sagt auch Herbst. Seine eigene Sicht auf den Tod habe sich aus seinem Glauben heraus indes nicht durch dieses Projekt verändert: „Meine Sicht auf den Tod war immer schon von tiefer Zuversicht geprägt.“

Weitere Informationen im Internet unter: www.und-die-welt-steht-still.de. Buchhinweis: Stefan Weiller: Letzte Lieder – Sterbende erzählen. Edel Books, 256 Seiten, 19,95 Euro.