Hier kommt Brüssel zur Ruhe

Er gilt als “Pere Lachaise” von Brüssel: der Friedhof im Stadtteil Laeken. Die Promi-Dichte ist nicht ganz so hoch wie in Paris. Aber: Rodins Skulptur “Der Denker” ist hier zu sehen. Nur ein Karnevalist wird vermisst.

Auf dem Boden liegen goldene Schnipsel Stanniolpapier. Vielleicht von einer Hochzeit. Der Türgriff ist ein wenig klebrig und lässt sich nicht ganz herunterdrücken. Schade. Die imposante neugotische Liebfrauenkirche im Brüsseler Stadtteil Laeken bleibt an diesem nassgrauen Herbsttag offenbar geschlossen. Die Grablege der belgischen Königsfamilie in der Krypta des Gotteshauses somit auch. Prominente sind freilich auch auf dem benachbarten Friedhof bestattet.

Das sechs Hektar große Gelände wird gern mit seinem berühmten Vorbild verglichen, dem Pere Lachaise in Paris. In Laeken ruht beispielsweise Maria Felicia Garcia, “La Malibran”, die angeblich erste Operndiva der Geschichte. Die gebürtige Pariserin mit spanischen Wurzeln starb 1836 mit nur 28 Jahren im englischen Manchester. Wenige Monate zuvor war sie bei einem Ausritt im Londoner Hyde Park vom Pferd gestürzt. Einer medizinischen Behandlung soll sie sich verweigert haben. Stattdessen schleppte sie sich weiter auf die Bühne – bis für sie der letzte Vorhang fiel.

Ebenfalls in Laeken begraben: der Architekt Joseph Poelaert (1817-1879), der sein wohl bekanntestes Werk in Brüssel nicht mehr vollenden konnte. Den leicht überdimensionierten Justizpalast im Herzen der Hauptstadt, wo sich zu Stoßzeiten Straßenbahnen, Passanten und Fahrradfahrer ineinander verkeilen, bevor sie ihrer Wege ziehen – wie durch ein Wunder meist unverletzt. Auf dem Friedhof in Laeken sind Lärm und Hektik ganz weit weg. Eine Krähe hüpft auf dem Rasenstreifen zwischen zwei Grabreihen, weiter hinten lässt sich eine Elster nieder.

Viele der älteren Ruhestätten sind im Stil des Neoklassizismus, der Romantik oder des Expressionismus gestaltet. Die Geschichten hinter Ornamenten, kleinen Mausoleen und trauernden Figurengruppen lassen sich mitunter nur erahnen. In einer Ecke scheint sich ein Soldat nach einem langen Marsch auszuruhen. Es handelt sich um die letzte Ruhestätte von Max Pelgrims, der gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Alter von gerade einmal 24 Jahren starb. Unermesslich muss der Schmerz der Eltern gewesen sein, die ihrem Sohn ein solches Denkmal setzten.

Auch die sterblichen Überreste von Franz Raveaux sollen sich hier irgendwo befinden. Der Sohn eines im Rheinland heimischen gewordenen Franzosen wurde 1810 in Köln geboren. Revolution lag ihm gleichsam im Blut. Er engagierte sich 1830 zugunsten der Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden und war 1834/35 im spanischen Bürgerkrieg zugegen. Nach seiner Rückkehr in seine Geburtsstadt machte er als alternativer Karnevalist von sich reden. Der wilde Franz kritisierte das Festkomitee und gehörte zu den Mitgründern der “Allgemeinen Karnevalsgesellschaft”, die gegen die etablierten Vereinen zu Felde zog.

Fast schon Ehrensache, dass Raveaux auch bei der Märzrevolution 1848 für die Demokratie in Deutschland kämpfte. Das Unterfangen war bekanntlich nicht von Erfolg gekrönt – die Monarchisten gewannen wieder die Oberhand und Raveaux landete als Exilant in Belgien, wo er 1851 starb. Wo aber ist er abgeblieben? Die Suche führt vorbei an Auguste Rodins Plastik “Der Denker”. Ein belgischer Antiquitätenhändler hatte sich zu Lebzeiten einen Abguss gesichert, unter dem er nach seinem Tod bestattet zu werden wünschte.

Unterdessen von Raveaux keine Spur. Frage am Empfang: Wo könnte er liegen? Der freundliche Friedhofswärter schaut in seinem Computer nach, verschwindet kurz in einem Nebenraum und kehrt mit einem kleinen Bündel vergilbter Akten wieder. Das Ergebnis scheint nicht ganz zufriedenstellend zu sein, denn jetzt zieht er eine Schublade mit Karteikärtchen aus einem Schrank. Voila – Raveaux Francois, er muss im Gräberfeld 16 liegen, Nummer 1.215. “Wenn Sie es nicht finden, dann melden Sie sich noch einmal”, sagt er und druckt noch schnell einen Lageplan aus.

Die Suche geht weiter, bis ein breiter Treppenabgang die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Eingang zur Unterwelt des Friedhofs von Laeken! Links und rechts der 300 Meter langen Gänge sind noch einmal mehr als 4.000 Verstorbene bestattet. Die in Belgien einzigartigen Katakomben gehen auf Emile Bockstael zurück, der 1875 als Beigeordneter für öffentliche Arbeiten die Idee hatte, wie er die steigende Nachfrage nach Grabplätzen in der Nähe der königlichen Familie als Einkommensquelle für die Kommune nutzen konnte.

Fehlt Franz Raveaux – immer noch. Der Friedhofswärter lässt sich nicht lange bitten. Und holt noch schnell eine Drahtbürste, um die verwitterten Grabsteine und -platten von Moos und Schmutz zu befreien. Aber auch er hat keinen Erfolg. Der Karnevalist bleibt vermisst. “Manchmal muss man Stunden oder Tage suchen, bis man ein Grab findet”, sagt er zum Abschied. “Kommen Sie gern ein andermal wieder, wenn Sie Zeit haben.”

Warum nicht? Eventuell im Sommer, wenn sich am Grabmal für Louise Flignot ein besonderes Schauspiel vollzieht. Ihr Mann Leonce Evrard ließ nach dem Tod der geliebten Gattin ein kleines Gebäude errichten. Während der Sommersonnenwende zeichnet die Sonne ein Herz in das Innere des Denkmals, das zum Himmel hin durch eine Kuppel geöffnet ist. Wer weiß – vielleicht ist dann ja auch die Liebfrauenkirche mit der Grablege der belgischen Königsfamilie geöffnet.