“Guten Abend, gut’ Nacht” am Pflegebett

Ein Abendlied zur guten Nacht – ganz persönlich am Bett gesungen – das tut nicht nur Kindern gut, sondern auch Menschen im Pflegeheim. Eine Idee lädt zum Nachahmen ein.

Die Abendsängerinnen Gabriele Blum-Eisenhardt (re.) und Anne Krei (M) singen mit einer Bewohnerin eines Seniorenzentrums
Die Abendsängerinnen Gabriele Blum-Eisenhardt (re.) und Anne Krei (M) singen mit einer Bewohnerin eines Seniorenzentrumsepd-bild/Judith Kubitscheck

Montagabend, 18 Uhr. Im Seniorenzentrum im Markwasen in Reutlingen ist es Zeit fürs „Abendsingen“: Jede Woche kommen Ehrenamtliche in die Einrichtung der Bruderhaus-Diakonie, besuchen jeweils zu zweit die Bewohner und Bewohnerinnen und singen mit ihnen. „Das Besondere am Abendsingen ist, dass wir nicht als Chor kommen und vorsingen, sondern dass wir in die Zimmer gehen und den Bewohnerinnen und Bewohnern ganz persönlich zwei bis drei Abendlieder singen“, erklärt Gabriele Blum-Eisenhardt und klopft an die Zimmertür von Frau F.

Sie ist die älteste Bewohnerin im Seniorenzentrum, etwas mehr als 100 Jahre alt. „Mir geht’s heute gar nicht gut“, klagt die Frau, die im Pflegebett liegt. Ein unberührtes Essen steht neben ihr. „Dürfen wir Ihnen ein Abendlied singen?“, fragt Blum-Eisenhardt. Die Seniorin zögert, schüttelt leicht den Kopf. „Wie wäre es mit ‘Guten Abend, gut’ Nacht’?“ Auf einmal geht ein Strahlen über das Gesicht der Frau, sie nickt. Die beiden Besucherinnen stimmen an. Frau F. hört aufmerksam zu, bei der zweiten Strophe bewegt sie ihren Mund bereits etwas mit. Nach dem Lied ist ihre Stimmung wie ausgewechselt: Sie erzählt vergnügt von ihrem Sohn, der sie vor ein paar Tagen besucht hat, und bedankt sich beim Abschied.

Abendsingen im Seniorenheim: Gesungen werden alte, bekannte Lieder

Besonders gefragt seien „Kein schöner Land“ und „Der Mond ist aufgegangen“, erzählt Blum-Eisenhardt. Bei diesem Lied wünschten sich die Bewohner vor allem die letzte Strophe, in der es heißt „und lass uns ruhig schlafen und unseren kranken Nachbarn auch.“ Das Singen rührt etwas bei den Senioren und Seniorinnen an – so nimmt es die Abendsängerin Hildegard Walker wahr. Viele reagierten wie Frau F.: „Wenn wir singen, leuchten die Gesichter manchmal auf, und Menschen, die ganz stumm im Bett liegen, bewegen dann plötzlich die Lippen und sprechen oder singen mit – so wie es eben geht.“

Jede Woche kommen Ehrenamtliche in die Einrichtung der Bruderhaus-Diakonie
Jede Woche kommen Ehrenamtliche in die Einrichtung der Bruderhaus-Diakonieepd-bild/Judith Kubitscheck

Gabriele Blum-Eisenhardt erzählt von einem Mann, der früher Chorleiter war: „Er hat erst überhaupt nicht reagiert und dann mit der Zeit begonnen, mit den Zeigefingern unser Singen zu dirigieren.“ Die christlichen Texte der Lieder könnten vielen Menschen offensichtlich Trost geben, ist ihre Erfahrung: „Das sind ja Lieder, die die Leute mit Trost und Hoffnung verbinden, die früher wohl sehr wichtig für sie waren.“ Beeindruckend sei auch, dass Seniorinnen und Senioren noch immer alle Verse eines Liedes auswendig könnten.

Kerstin Schatz beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Thema Musik und Älterwerden, sie ist stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik und Kirchenmusikdirektorin im bayerischen Amberg. Schatz sagt: Musik sei ein Medium, das Menschen unmittelbar und im Innersten erreiche. „Musik wirkt wie eine Brücke, auch dann, wenn eine ‘normale’ Kommunikation nicht mehr möglich erscheint, wie beispielsweise bei Menschen mit Demenz.“ Studien belegten auch, dass Singen gesundheitsfördernd sei und Schmerzen lindern könne.

Singen am Bett weckt Erinnerungen und Erlebnisse

Musikerin und Chorleiterin Heidrun Speck aus Deizisau nahe Stuttgart bietet seit 2009 Kurse für Ehrenamtliche und Mitarbeitende in Heimen zum Singen vor dem Schlafengehen an. Das Singen am Bett solle Erinnerungen und Erlebnisse wecken, erklärt sie: „So, wie viele der Senioren es erlebt haben, dass ihnen ihre Mutter als Kind vor dem Schlafengehen ein Lied gesungen hat, und so, wie sie vielleicht auch selbst ihre Kinder mit einem Lied ins Bett gebracht haben, soll den Menschen im Pflegebett auch ein Gefühl des Vertrauens und Behütetseins vermittelt werden.“

In ihren Fortbildungen mache sie klar, dass die ehrenamtlichen Sängerinnen und Sänger niemanden mit ihren Abendliedern „überfallen“ dürften. Wichtig sei, es zu respektieren, wenn jemand kein Lied hören wolle. Respekt müsse man auch angesichts der „Intimsphäre Bett“ haben: „Nur weil jemand alt ist, darf man ihn nicht einfach anfassen oder sich auf sein Bett setzen.“

Zum Abschied wird “Kein schöner Land” gesungen

Auch Sozialpädagogin Blum-Eisenhardt lernte die Idee von Heidrun Speck kennen und initiierte das Abendsingen mit anderen Ehrenamtlichen im Rahmen der Quartiersinitiative „Lebenswert“ der Evangelischen Kreuzkirche in Reutlingen. Letzte Station an diesem Montagabend ist bei Frau R. Sie wünscht sich „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“. „Das hat so nette Verse“, sagt die ehemalige Kinderheimleiterin, die früher selbst viel mit Kindern Lieder gesungen hat, wie sie erzählt. Zum Abschied wünscht sie sich dann auch noch „Kein schöner Land“.

„Nun Brüder eine gute Nacht, der Herr im hohen Himmel wacht, in seiner Güten, uns zu behüten, ist er bedacht.“ Laut und deutlich singt Frau R. mit und bedankt sich dann überschwänglich. Sie hat keine Angehörigen mehr, die bei ihr vorbeischauen könnten. Auf den Besuch der Abendsänger hat sie schon den ganzen Tag gewartet.