Gruftretter bei der Arbeit
In der Gruft der Ludwigsburger Schlosskapelle herrschte fürchterliches Durcheinander. Knochen von fünf Bestatten steckten im Schlamm. Andreas und Regina Ströbl sind die Experten für solche Fälle.
„Sie können gleich einmal helfen, die Kisten herunterzutragen“, schlägt Andreas Ströbl mir vor – der Zeitungsreporterin. Stift und Block also erst einmal beiseite gelegt, ich folge dem Bestattungs-Archäologen auf die Orgelempore der Ludwigsburger Schlosskapelle. Noten sind es nicht, die seit Monaten dort zum Trocknen lagern. Es sind Knochen, von der Rippe bis zum Schädel – menschliche Gebeine in allen Größen und Formen. Um sie soll es hier heute gehen: die leiblichen Überreste aus der Gruft der Kapelle.
„Als unser Organist neulich zum Üben kam, musste ich das alles mit Laken abdecken“, erzählt Detlef Niemann, der Küster des weißen Kirchleins, das direkt neben dem Witwenschloss der Pommerschen Herzöge steht. „Er fühlte sich irgendwie beobachtet.“
Behutsam hat Niemann jeden dieser Knochen in eine der 15 Kisten gelegt. Sauber gestapelt stehen sie nun neben der Orgel. Gleich sollen sie gereinigt werden. „Er hat meine Obstkisten genommen“, sagt Küsterfrau Karin Niemann, die schonmal Kaffee bringt: „Aber die brauche ich zurück!“ Praktisch war Detlef Niemann, der hier auch die Uhr-Aufzieh-Mechanik konstruiert hat, schon immer …
Eine Obstkiste voller Knochen
Ich greife mir eine Kiste, auf der „Süße Früchte“ steht und in der etwas verkrustete, aber starke Knochen liegen, Oberschenkel vermutlich, dirigiere sie die schmale Treppe hinab. Bloß nicht fallenlassen.
„Wir machen es im Altarraum, da ist der meiste Platz“, ruft Ströbl seiner Frau zu, die noch Koffer mit Gerätschaften vom Auto in die Kirche trägt. Regina und Andreas Ströbl sind beide promovierte Archäologen und Kunsthistoriker, haben sich auf Sepulkralkultur, also Grablegen und Bestattungen spezialisiert, und betreiben die Forschungsstelle Gruft in Lübeck. Sie dokumentieren und retten Grablegen der letzten Jahrhunderte im ganzen Bundesgebiet. Heute die hier in Ludwigsburg bei Greifswald.
Schlichte Handfeger werden jetzt gebraucht. „Zuerst bürsten wir die Knochen behutsam ab“, erläutern die beiden, als die Arbeit beginnt. Detlef Niemann führt die neue eichenhölzerne Klappe im Mittelgang vor, die hinab zur Gruft führt. „Ist die nicht schön geworden?“ Diesen Zugang, erfahre ich, gibt es erst seit kurzem wieder: Seit die Gruft im April 2024 geöffnet und die Bestatteten dort in einem erbarmungswürdigen Zustand vorgefunden worden waren.
Kinder brachten Schädel mit in die Schule
„Wir hatten die Restaurierung ja lange vorbereitet“, so der Küster. Denn dass es in dem vier mal vier Meter großen Kreuzgewölbe unter dem Altarraum feucht und einer Gruft nicht würdig sein würde, vermutete man schon aus den Dorfgeschichten. „Für die Gruft interessierten sich schon in den 1970ern junge Forscher“, erzählt Niemann augenzwinkernd. Nämlich Schüler aus dem Ort, die das Lüftungsgitter an der Ostseite entfernten und so in den Gruftraum stiegen. Wie eine Trophäe hätten sie einen Schädel in die Schule gebracht, bis eine Lehrerin den Spuk unterband und das Zurückbringen forderte. In einer Legendenvariante landete der Totenschädel auch auf dem Pfarrhausboden in Kemnitz, wo er sich jedoch bis heute nicht fand.
„Fakt ist jedenfalls, dass wir Knochen von vier erwachsenen Personen und einem Kind haben, aber nur zwei Schädel“, fasst Andreas Ströbl zusammen. Das Ehepaar erzählt, dass solche Verwüstungen keine Seltenheit seien. „Wir machen das jetzt seit 24 Jahren, und was wir da alles schon gesehen haben, entbehrt jeder Vorstellung.“
Knochen steckten im Schlamm
In Ludwigsburg tat das eingedrungene Wasser das Übrige: Der einzige Sarg, der wohl überdauert hat, weil er aus Kupfer besteht, lag offen, Knochen schwammen darin im Wasserbad oder steckten im schlammigen Boden. „Furchtbar!“, und egal, wie oft die Ströbls solche Anblicke gesehen haben: diesen Zustand gestörter Totenruhe möchten sie so schnell es geht beseitigen und die Grüfte würdig herstellen – es ist ihr Berufsethos. Grüfte seien für sie keine Orte des Verfalls: „Es sind Auferstehungsorte. Wir machen diese Arbeit, um den Willen der Verstorbenen zu erfüllen. Die wollten nicht in Dreck und Schlamm liegen, nicht wild umhergeworfen werden, sondern in einer vernünftigen Bestattung dem Jüngsten Tag und damit der leiblichen Auferstehung entgegenschlafen.“ Ihr Berufsethos schreiben die Ströbls groß: „Bitte fotografieren sie für die Zeitung keine Schädel und Knochen“, bat der Sepulkralarchäologe mich zuerst. „Denn sicher möchteniemand gern in einem solchen Zustand aufs Bild.“ Regel Nummer eins.
Außer, es geht um die Dokumentation. Inzwischen haben sie die Knochen von Schlammresten befreit und sortiert: Was gehört wem? Die großen Knochen vermisst er, dokumentiert Besonderheiten. „Oh, oh, oh!“, sagt er plötzlich, und zeigt auf Abszesse an einem Unterkiefer. „Wurzelkaries. Nicht schön. Das muss weh getan haben.“
„Knochen erzählen Geschichten“
„Knochen erzählen Geschichten“, sagt Ströbl. Dieser Teil der Arbeit ist sozusagen der poetische. Oder eher der detektivische? „Was fällt Ihnen zum Beispiel an diesem Oberschenkelknochen auf?“, fragt der Experte. Ich überlege. Klein ist der Knochen. Krumm. „Er stammt von einem Kind, und das Kind hatte Rachitis“, sagt Ströbl. „Es ist an dieser Krankheit gestorben. Die feinen Leute haben ihre Kinder nämlich nicht draußen spielen lassen, damit ihnen nichts passiert. Aber was passiert ist, war, dass sie kein Sonnenlicht abbekommen haben und deswegen auch kein Vitamin D ausbilden konnten.“
Wir stehen also vor einem Knochen, und blicken auf das Schicksal eines Kindes, das vor 300 Jahren wahrscheinlich totgehätschelt wurde. „Dann liegt hier vor uns ausgebreitet sozusagen Medizingeschichte?“, frage ich. „Oh, ja!“ – die Ströbls erkennen noch viel mehr. Dass die Schädel Frauen gehörten – an der höheren Stirn als bei Männern – wer Arthrose hatte, wer jung oder alt starb – am Abrieb der Backenzähne. Sogar, dass sie reich waren: am Karies. „Zwar ist schwer zu sagen, wer in einer Gruft liegt, wenn wir keine Särge dazu haben. Aber Zucker war teuer, den konnte sich nur die Herrschaft leisten.“
Wer in Ludwigsburg bestattet liegt, ist unbekannt. „Wir haben nichts in den Kirchenbüchern gefunden“, sagt Niemann und hofft, jemand wird das mal erforschen.
Auch Tierknochen finden sich dazwischen. „Tiere kommen oft in Grüfte. Katzen und Marder verzehren hier ihre Beutetiere, sterben dort. Wir finden auch Schlachtabfälle in Grüften, weil man sie oft auch als Müllschlucker benutzt hat“, sagt Regina Ströbl. Und was findet sich da noch so? „Fahrräder, Gehwegplatten, Schulranzen, Coladosen, Zigarettenpackungen, Unterhosen, Feuerwerkskörper – alles mögiche wird in so eine Gruft geschmissen“, sagen sie.
Wiederbestattung nach 300 Jahren
„Jetzt kommt der Sarg“, unterbricht Niemann. Nach der Bergung aus dem Nass war er in Stralsund von Restauratorin Cora Zimmermann wieder hergestellt worden. Vorsichtig wird er ausgeladen und vor der Kirche begutachtet. Inzwischen sind einige versammelt: Torsten Rütz, der die bauhistorische Untersuchung der Gruft gemacht hat, Michael Clavén von der Planwerkstatt, Pastor Matthias Ballke und viele Beteiligte mehr. Schließlich wird das wertvolle Stück wie ein rohes Ei den Gang hinab bugsiert und in der seit April getrockneten und renovierten Gruft aufgestellt.
Regine Ströbl hat ein weißes großes Tuch mitgebracht. Sie breitet es im Sarg aus. Nach Körperteilen geordnet kommen nun die Knochen hinen: die Schädel an das Kopfende, darunter alle Schulterblätter, Ober-, Unterarmknochen und Rippen, dann die Hüften, Bein- und Fußknochen. Akkurat, nebeneinander, auch wenn der Platz eng ist in dem einen Sarg. „Mehr haben wir nicht, und so, denken wir, ist die Totenwürde wiederhergestellt.“ Ein letzter kontrollierender Blick. Dann hüllt sie das weiße Tuch über die Knochen, die soviel in ihrem Leben und nach ihrem Tode gelitten haben.
Die sterblichen Überreste wieder ihrer Totenruhe überlassen
Der Deckel kommt auf den Sarg, und alle versammeln sich still darum. Pastor Ballke spricht ein paar Worte. „Es ist ja keine Bestattung, aber wir möchten die sterblichen Überreste dieser unbekannten Menschen jetzt wieder ihrer Totenruhe überlassen“, sagt er. Dann bittet die Restauratorin Cora Zimmermann alle Gäste nach oben: „Leider muss ich die Totenruhe jetzt noch einmal empfindlich stören“, sagt sie. Denn der Sarg muss fest verschlossen werden, und das wird laut und geht nur mit dem Hammer.
Karin Niemann hat inzwischen Apfelkuchen gebracht und ihre Obstkisten eingesammelt, und während unten noch gehämmert wird, beschließt oben eine fröhliche Kaffeetafel das große Projekt „Gruft“ 2024. „Ich bin froh, dass wir das geschafft haben“, sagt Initiator Küster Niemann. „Und ich freue mich, dass der Kuchen so gut schmeckt!“, sagt Andreas Ströbl. Denn auch das leibliche Wohl zählt zum himmlischen Glück.
Am Totensonntag wird die Gruft in der Zeit von 10 bis 17 Uhr für Besucher geöffnet.