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Gronemeyer: Im Missbrauchsskandal Frage nach dem “Warum” stellen

Nach dem Bekanntwerden einer hohen Zahl von Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche muss nach Ansicht des Gießener Theologen Reimer Gronemeyer auch die Frage nach dem „Warum“ gestellt werden. „Die Studie war ein wichtiger Schritt, aber dabei darf die Kirche nicht stehen bleiben“, sagte Gronemeyer in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Gerade im christlichen Kontext müsse es auch um die Frage der Schuld und der Vergebung gehen.

Am Donnerstag hatte ein unabhängiges Forscherteam eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Die Forscher gehen von mindestens 1.259 Beschuldigten aus. Betroffene hätten in der Kirche oft kaum Unterstützung erfahren.

Es sei gut und richtig, dass der Skandal, die Missbrauchsopfer so lange nicht zu hören, jetzt auf die Bühne gebracht werde, sagte Gronemeyer. Wichtig sei auch, dass die Oper eine Entschädigung erhielten. „Aber wenn wir nur eine individuelle Schuld identifizieren, kommen wir da nicht raus.“ Die entscheidende Frage laute: „Was ist eigentlich geschehen, dass Menschen so etwas machen, was ist eigentlich in der Gesellschaft los, dass jahrelange Missbrauchsgeschichten möglich waren?“

Es gebe das jesuanische Vorbild, sich mit den Opfern, aber auch mit den Tätern an einen Tisch zu setzen, erklärte der Theologe. Gronemeyer schlug eine Art Versöhnungskommission vor, wie sie in Südafrika nach dem Ende der Apartheid eingesetzt wurde. Der Versöhnungsprozess sei dort „unter Schmerzen“ verlaufen, habe aber viel zutage gefördert. Allerdings müssten die Opfer einen solchen Prozess wollen, betonte der emeritierte Professor für Soziologie.

Für ihn gehe es auch um die Frage der Gewaltfreiheit einer Gesellschaft, sagte der Wissenschaftler. Aktuell tauchten vermehrt Forderungen nach einer militärisch besser gerüsteten Gesellschaft auf. „Die Antwort liegt aber in einer innergesellschaftlichen Friedenskultur, in der nicht Gewalt, sondern die Sehnsucht nach Liebe ihren Ausdruck findet.“