Er ist der geheimnisvolle Erzvater der christlichen Mystik. Seine Schriften haben tausend Jahre lang berühmte Theologen wie Thomas von Aquin und Meister Eckhart beeinflusst. Dennoch weiß man bis heute nicht, wer der sagenumwobene „Dionysius Areopagita“ wirklich war. Handelte es sich um einen Patriarchen der Ostkirche, oder war er ein einfacher syrischer Mönch? Mehr als Mutmaßungen kann die Wissenschaft nicht bieten. Sicher ist nur, dass die theologische Welt ein Jahrtausend lang überzeugt war, es handle sich beim Autor der Schriften um den Athener Ratsherrn, der sich nach der Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag zum Christentum bekehrt hatte. (Apg 17, 22-34).
Der vermeintliche Apostel-Schüler war gar keiner
Für die Wirkung der vier Aufsätze „Die göttlichen Namen“, „Die himmlische Hierarchie“, „Die mystische Theologie“ und „Die kirchliche Hierarchie“ wirkte das wie ein Brandbeschleuniger: An den Schriften eines leibhaftigen Apostelschülers kam kein Theologe vorbei – sie wurden studiert, verbreitet, ins Lateinische übersetzt und so einem noch größeren Gelehrtenkreis zugänglich gemacht. Umso herber die Enttäuschung, als spätestens im 19. Jahrhundert endgültig bewiesen war, dass Dionysius frühestens im 5. Jahrhundert gelebt haben konnte. Der Begründer der christlichen Mystik bekam ein „Pseudo“ in den Namen verpasst, wurde als „Fälscher“ geschmäht – und sein Werk verschwand in der Versenkung.
Heute sind sich die Wissenschaftler einig, dass das Verwirrspiel um den Verfasser nur ein Randthema ist. Der Streit tut der Bedeutung der Schriften keinen Abbruch. Denn zum ersten Mal formuliert darin ein christlicher Autor eine „negative Theologie“, die Gott nicht mehr durch Beschreibungen wie Güte, Licht oder Liebe fassen will.
Stattdessen zählt Dionysius auf, was Gott alles nicht ist: „Er ist nicht Finsternis und nicht Licht, weder falsch noch wahr, (…) weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder hat er Kraft noch ist er Kraft, weder ist er lebendig noch ist er Leben. Er ist nicht Wirklichkeit, weder ewig noch zeitlich.“
Doch Dionysius treibt die Negation noch weiter auf die Spitze: Weil man Gott nicht mit Worten fassen kann, muss auch die Negation verneint werden. Er verlässt deshalb die Debatte um „sein“ oder „nicht sein“ und hebt sein Modell auf eine Über-Ebene: Gott ist der Eine, die erste Ursache, der Über-Seiende, der immer in sich bleibt und aus dem doch alles entspringt. Nur wer seine Seele frei macht von Begriffen, Bildern und Erkenntnissen, kann Gott im Schweigen erfahren.
Versuch, Philosophie und Glaube zu verbinden
Nun hatte Dionysius das Konzept der negativen Theologie nicht erfunden. Er begegnete ihm in der zeitgenössischen Philosophie des Neuplatonismus. Nach Platon galt die Welt als scharf getrennt in einen geistigen und einen sinnlich wahrnehmbaren Teil. Platons Nachfolger versuchten, diese beiden Welten in Beziehung zu setzen. Schon der Neuplatoniker Proklos (ca. 412-485), wahrscheinlich ein Zeitgenosse Dionysius’, sprach vom Ursprung der Schöpfung als dem unbeschreibbaren „Einen“, aus dem in einem zeitlosen Schöpfungsprozess Stufe um Stufe alles Geschaffene hervorgeht.
Die Seele hat Anteil am Göttlichen
Dionysius übernahm diese Vorstellung und formte sie für das Christentum aus. An die Stelle des neuplatonischen Stufenmodells setzte er ein christliches Schöpfungsmodell, bei dem Gott als erste Ursache immer der Ursprung alles Geschaffenen bleibt. Und weil der Mensch somit selbst göttlichen Ursprungs ist, hat seine Seele auch Anteil am Göttlichen.
Für Dionysius Areopagita bedeutet diese Erkenntnis: Das Einswerden mit Gott ist nicht nur Gnade, sondern auch Übung. Der Mensch kann diesen Weg aus eigener Kraft gehen: Wenn er bereit ist, seine Seele von allen Begriffen freizumachen, die ihm ein Wissen über Gott vorgaukeln.
Bringt Dionysius damit einen Leistungsgedanken in die Glaubenspraxis, der gegen das spätere ur-lutherische Prinzip des „sola gratia“, allein aus Gnade steht? Tatsächlich hat sich der Reformator in seinem Aufsatz „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ harsch von Dionysius distanziert: „Dies ist ihre Lehre, die als die höchste göttliche Weisheit ausgegeben wird, von der ich auch einmal überzeugt gewesen bin, doch nicht ohne großen Schaden für mich selbst. Ich ermahne euch, dass ihr diese Mystische Theologie Dionysii (…) wie die Pest verabscheut.“
Willensfreiheit gehört zur Erleuchtung
Doch die göttliche Gnade ist auch für Dionysius unerlässlich. Um zur Einheit mit Gott zu gelangen, muss sich der Mensch dem Dreiklang von Läuterung, Erleuchtung und Vollendung unterwerfen. Erleuchtung ist dabei das Geschenk aus der Gnade Gottes. Ob sich der Mensch durch innerliche Reinigung dafür bereit machen wolle, sei seine Entscheidung: „Zum Wesen des Menschen gehört aber die Willensfreiheit, die sogar die göttliche Vorsehung achtet, und die den Menschen befähigt, nicht nur vom Urlicht sich abzuwenden, sondern auch sich ihm wieder zuzuwenden“, heißt es in der „Kirchlichen Hierarchie“. Oder, wie es die Philosophin Katharina Ceming formuliert: „Wo der Mensch nicht bereit ist, sich innerlich freizumachen, kann die göttliche Gnade gar nicht wirken.“
