„Gott ist dir zur Seite“

Wohin wandern unsere Gedanken? Worauf hoffen wir auf der Kirchenbank vor dem Heiligabend-Gottesdienst? Darüber schreibt Maria Jepsen in unserem weihnachtlichen Wort. Die Bischöfin im Ruhestand ist sich sicher: Um eine Sache müssen wir uns keine Sorgen machen.

Die weihnachtlich geschmückte Kreuzkirche zu Dresden
Die weihnachtlich geschmückte Kreuzkirche zu DresdenMatthias Rietschel / epd

Da sitzt du dann am Heiligen Abend in der Kirche, eingequetscht, Schulter an Schulter mit deinen zufälligen Nachbarn. Vor dir die Bankreihen sind voll und die hinter dir auch. Noch schwirren die Stimmen, leise, gedämpft – aber es ist ein großes Gemurmel in der Kirche, ein Kopf-Hin-und-Her-Wandern. Ach, die ist auch da heute! Und der da! Und: Die kenn ich ja gar nicht. Kinder sind da und Alte. Grauhaarige, Feinfrisierte, Zerstrubbelte. Du siehst ja vor allem die Köpfe von hinten. Und Hüte und Mützen, Jacken und Mäntel verschiedenster Moden, Wolle, Loden, Pelze auch. Düfte wabern, aufdringliche und milde. Ein Meer von Menschen. Und du mittendrin.
Denen allen, so wird es gleich gesagt werden, ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Dir auch, ja. Darauf hoffst du. Aber wirklich auch all den anderen? Dass Gott seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte: nun gut. Aber auch sein Heil für alle, wirklich alle?

Die Augen eines Kindes

Ein kleines Kind, auf dem Arm seiner Mutter, dreht sich um, zwei Reihen vor dir. Es blickt nach hinten, ganz langsam in die Gesichter, ernst und still, wie es nur Kinder wagen. Als suchte es etwas in den Gesichtern, als prüfte es etwas. Stirnen, Nasen, Münder, Falten, die Farbe der Wangen. Und was mehr? Seine Augen gleiten von einem zum anderen. Immer verweilt es lange Augenblicke lang. Ganz ruhig.
Auch dich sieht es an. Einen Moment ruhen eure Augen ineinander. Dann lenkt es seinen Blick weiter – du atmest durch. Schließlich wendet es sich wieder um und schmiegt sich in den Arm der Mutter. Was mag es erkannt haben auf seiner Augenreise? Du selbst siehst ja nur die Köpfe von hinten. Nicht die Herzen, nicht die Gedanken, nicht die Gefühle.
„Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.“ Was Claudius dichtete, gerade an diesem Heiligen Abend mag es einem in den Sinn kommen. Gerade wenn du an den Zustand der Welt in diesem Jahr denkst. An die Kriege, die Flüchtenden, die Verarmten. Die Hungernden, die Eingesperrten. Die Machthaber und die Machtlosen. Die zerrissenen Familien. Die Vergewaltigten. Die Dreisten, denen nichts und niemand heilig ist. Draußen die Welt um uns herum mit ihren Meeren und Wüsten, Metropolen und Dörfern ist wieder einmal sehr furchtbar. Kann einem Angst und Bange machen.

Mehr als eine Nachricht

So viel lässt dich gleichgültig, obwohl es dir zu Herzen gehen sollte, obwohl es mehr sein sollte als nur eine Nachricht aus der Zeitung. Mag sein, dass dein Leben auch nicht ganz in Ordnung ist. Aber du gehörst doch nicht zu den ganz Gleichgültigen. Wärst du sonst heute hier in der Kirche? Was ist deine Sehnsucht?
Nun klingen die Glocken aus, und der Gottesdienst beginnt. „Gott, lass dein Heil uns schauen, auf nichts Vergänglichs trauen“, die Bitte von Claudius für uns stolze Menschen wird nun gleich erfüllt werden, anhebend mit den Worten des Evangelisten Lukas: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Auch Syrien wird gleich wieder erwähnt werden: „… bis es die Engel dann verkünden: Euch ist heute der Heiland geboren.“ Ja, sie verkünden es allen, die hier in der Kirche sitzen. Und auch den anderen.
Anders als Maria und Josef und die Hirten werden wir Jesus nie in die Augen sehen können. Das Kind in der Krippe am Altar ist meist nur eine Puppe oder eine liebevoll geschnitzte Holz­figur mit aufgemalten Augen. Nie ist deren Blick so intensiv wie der des Kindes zwei Reihen vor dir.

Ein wirklich lieber Gott

Wir wollen Jesus sehen, aber wollen wir auch, dass er uns sieht, uns ansieht und erkennt? Dass der Heiland sieht, wo wir unheil sind, zerkratzt und brüchig und wild? Dass du in den Blick Gottes gerätst?
„Das Unzähmbare des Menschen ist nicht das Böse, das in ihm steckt: Es ist das Gute“, sagt Antonio Porchia. Darauf setzt Gott immer wieder. Auf die Güte. Dass das Gute auch in dir nicht verkümmere, sondern auflodere. Gott sieht uns an, aber er greift uns nicht an.
In dem Kind, in Jesus, stellt Gott sich nicht über uns, sondern neben uns. So eng beieinander bist du mit ihm wie hier mit den anderen in der Kirche.
Darum kannst du am Schluss, nach dem Segen das „O du fröhliche“ getrost mitsingen, wer du auch seist. Denn du hast wirklich einen lieben Gott. Gott ist dir zur Seite. 
Unsere Autorin
Maria Jepsen
war Bischöfin in Hamburg und die erste Bischöfin überhaupt. Heute lebt sie in Husum (Schleswig-Holstein).