Syrien im Wandel, Libanon in der Krise? Die Situation im Nahen Osten ist kompliziert, aber es gibt durchaus Hoffnung, sagt ein örtlicher Hilfswerks-Chef. Was nun getan werden muss – und was unter allen Umständen nicht.
Wo viele den Teufel an die Wand malen, sieht Michel Constantin Chancen für bessere Zeiten in Nahost. Syrien stehe vor einer besseren Zukunft, und auch der Libanon habe die einzigartige Gelegenheit, zu seiner Neutralität zurückzukehren, sagt der Regionaldirektor der Päpstlichen Mission für Libanon, Syrien, Irak und Ägypten, im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Hoffnung liegt auf Papst Leo XIV.: Er soll der Stimme der libanesischen Christen Gehör verschaffen.
Frage: Herr Constantin, Sie sind gerade von einem mehrtägigen Besuch aus Syrien zurückgekommen. Wie sehen Sie die gegenwärtige Lage dort?
Antwort: In Syrien geschieht nicht nur ein politischer Wandel, sondern auch ein wirtschaftlicher. Der Wiederaufbau wird nicht durch Finanzhilfen geschehen, sondern durch Investitionen, mit dem neuen Syrien als offenem Markt. Entsprechend werden sowohl die Preise als auch der Wettbewerb anziehen. Wir müssen unsere Jugend darauf vorbereiten, damit sie auf einem konkurrenzfähigen Bildungsstandard ist. Gefragt sind Computerfähigkeiten, Sprachkenntnisse und dergleichen. Wer sie nicht hat, wird außen vor bleiben. Deshalb müssen wir jetzt daran arbeiten.
Frage: Wie soll das geschehen?
Antwort: Syrien hatte bis Ende der 1960er Jahre ein Curriculum, nach dem viele Fächer auf Französisch unterrichtet wurden. 1969 wurde aufgrund der politischen Lage eine Arabisierung eingeführt, der sich die christlichen Schulen mit Ausnahme der Armenier widersetzten. Infolgedessen wurden ihre Schulen konfisziert. Wir müssen mit der Regierung aushandeln, dass wir sie zurückbekommen. In den nächsten fünf Jahren werden wir 50 bis 100 weitere Schulen für unsere Kinder brauchen, um sie auf den Wettbewerb vorzubereiten. Mit dieser Art strategischen Denkens können wir eine Rückkehr der Christen erreichen.
Frage: Wie sehen die syrischen Christen die Veränderungen in ihrem Land?
Antwort: Die Christen fühlen sich schlecht, und niemand ermutigt sie, sich besser zu fühlen. Sie sehen nur das halb leere Glas. Das liegt auch an den Kirchen, die ihrem Volk Hoffnung geben müssten. Auf Syrien wartet eine bessere Zukunft, weil der Westen sich für diese Region öffnet. Es wird Investitionen geben. Entweder schaut man zu, oder man wird Teil. Und die Christen haben keine andere Wahl. Anders als andere Minderheiten, wie Kurden oder Drusen, sind sie nicht in einem Landesteil konzentriert, sondern leben im ganzen Land. Sie haben also ein Interesse an einem vereinten Syrien, weil jede Spaltung auch die christliche Gemeinschaft spalten würde. Damit haben die Christen mit der syrischen Regierung ein wichtiges gemeinsames Interesse.
Frage: Auch der Libanon unterläuft einen großen Wandel. Was sehen Sie, wenn Sie auf die Zeit seit dem Beginn des Kriegs mit Israel in Folge des 7. Oktobers 2023 schauen?
Antwort: Fehler, Fehler, Fehler! Die Hisbollah hat sich von Israel täuschen lassen, das sie glauben ließ, kräftemäßig ebenbürtig mit Israel zu sein. Im Blick auf Israel ist heute klar, dass die Hisbollah keinerlei militärische Rolle mehr spielen kann.
Frage: Auch viele Christen haben sich von der Hisbollah abgewendet. Heißt das, dass ein Frieden mit Israel nähergerückt ist?
Antwort: Vor dem 7. Oktober waren wir in einer wesentlich besseren Ausgangsposition. Nun hat der Libanon seine Einheit verloren. Die Libanesen dachten, dass die Hisbollah als Israel ebenbürtige Gewalt einen gewaltfreien Zustand erreichen kann. Jetzt befürworten die libanesischen Christen, Drusen und sicher 60 bis 70 Prozent der Sunniten, sich nicht gegen den arabischen Trend einer Annäherung an Israel zu stellen, wie er etwa in den Abraham-Abkommen zum Ausdruck kommt. Aber 90 Prozent der Schiiten, die knapp ein Drittel der libanesischen Bevölkerung ausmachen, sind dagegen. Eine Annäherung an Israel würde zu einem Bürgerkrieg führen.
Frage: Wie sehen Sie die aktuelle politische Lage?
Antwort: Wir haben den Krieg verloren. Hisbollah hat den Krieg verloren. Seit dem Waffenstillstand vor einem Jahr greift Israel fast täglich an und setzt das Töten und Zerstören fort, während die Hisbollah nicht zurückschießt. Gleichzeitig hat die internationale Gemeinschaft die Messlatte für den Libanon nach oben verschoben. Von ursprünglichen Forderungen nach einem entmilitarisierten Gebiet südlich des Litani-Flusses sind wir zur Forderung nach einer vollständigen Niederschlagung der Hisbollah mit sofortiger Entwaffnung gekommen. Das ist wesentlich schwieriger zu erreichen. Die libanesische Armee ist nicht in der Lage, die Hisbollah mit Gewalt zu entwaffnen. Ihr stehen etwa 100.000 Hisbollah-Milizen gegenüber, mit besseren Waffen und besserem Sold. Gleichzeitig sind etwa 40 bis 50 Prozent der Soldaten der libanesischen Armee Schiiten. Ein solcher Zug würde die Armee spalten.
Frage: Sehen Sie einen Ausweg?
Antwort: Wir hoffen, dass es dem Papst gelingt, unsere Stimme hörbar zu machen. Wir brauchen Unterstützung. Unsere Armee braucht Unterstützung, bei der Rekrutierung, beim Training, aber auch bei der Frage, welche Waffen ihr erlaubt werden. Immer, wenn ein Papst in den Libanon kam, waren wir in einer sehr ernsten Situation. Als Johannes Paul II. 1997 kam, kontrollierte Syrien den Libanon. Die Christen standen unter großem Druck, sie waren politisch nicht repräsentiert. Der Papst kam mit der Botschaft an sie, zu bleiben. Drei Jahre später gab es eine politische Front für die Christen, mit vom maronitischen Patriarchat unterstützten Laien, die politische Veränderungen brachte, welche letztlich zum Abzug Syriens führten.
2011 war die ganze Region in Aufruhr. Um uns herrschten Kriege und Revolutionen, zahlreiche Flüchtlinge kamen ins Land. 2012 kam Papst Benedikt XVI. mit seiner Botschaft an alle Christen des Nahen Ostens, zu bleiben. Und sie blieben. Gegenwärtig sehen wir Veränderungen auf der politischen und auf der faktischen Landkarte. Israel ist dabei, sein Territorium zu erweitern. Es steht nicht nur im Süden des Libanon, sondern via Syrien auch an unseren östlichen Grenzen. Die internationale Gemeinschaft fordert sofortige Entwaffnung der Hisbollah, die Hisbollah verweigert sich Verhandlungen. Diese ungute Opposition zu lösen, liegt nicht in unseren Händen. Wir hoffen, dass der Papst dies der Welt klarmachen und sie dazu bewegen kann, die Latte zu senken.
Frage: Würde das die Hisbollah zum Einlenken bewegen?
Antwort: Laut Präsident Joseph Aoun weiß die Hisbollah, dass sie militärisch keine Rolle mehr spielt. Es steht außer Frage, dass sie ihre Waffen weiter gegen Israel einsetzt, und sie hat nicht den Wunsch, sie im Libanon einzusetzen. Aber es muss ein Weg gefunden werden, der es der Hisbollah erlaubt, das Gesicht vor den eigenen Leuten und die politische Rolle als Repräsentant von 30 Prozent der Libanesen zu wahren. Israel gewährt keinen einzigen Tag Waffenruhe. Wer garantiert, das es nicht bei der Waffenabgabe auf die Hisbollah und die libanesische Armee schießt? Das können nur die USA garantieren. Gleichzeitig muss die Hisbollah ihren Diskurs ändern. Es ist nicht realistisch, nur von einer Seite ein Absenken der Messlatte zu fordern.
Jetzt ist die einzigartige Gelegenheit, dass erstmals seit 1969 die libanesische Armee die einzige bewaffnete Kraft auf libanesischem Territorium ist. Es ist die goldene Gelegenheit, dass der Libanon zu seiner Neutralität zurückkehrt.