Glocken: Faszination eines uralten Klangs

Bei Kirchenglocken scheiden sich oft die Geister. Manche empfinden ihren Klang als nervig und zu laut, andere schätzen ihre kulturelle Bedeutung und können sich den Glockenschlag nicht wegdenken.

Stillgelegtes Glockenspiel der Garnisonkirche in Potsdam
Stillgelegtes Glockenspiel der Garnisonkirche in Potsdamepd-Bild

Glockengeläut und Christentum gehören zusammen. Lange bevor zum ersten Mal eine Orgel im Gottesdienst erklang, versammelten sich Christinnen und Christen zu den Tönen von Glocken. Sie ist damit das kirchliche Instrument schlechthin. Während die Instrumente in der Antike wohl vor allem der Abwehr böser Mächte dienten, waren es koptische Mönche, die in ihren Klöstern ab dem 4. Jahr­hundert regelmäßiges Glocken­geläut einführten. Noch heute ertönen Glocken zum Gottesdienst, markieren den Stundenrhythmus und traditionelle Gebetszeiten und begleiten Verstorbene auf dem Weg zum Grab.

Orgelsachverständiger: Ton der Glocke entsteht durch Schwingungen

„Glocken verbinden Sichtbares und Unsichtbares“, sagt Matthias Overbeck. „Sie tragen einen Ruf in die Welt, den wir wahrnehmen, obwohl er physikalisch gar nicht abgebildet werden kann.“ Das, so erklärt der Orgelsachverständige der Evangelischen Kirche von Westfalen, hat mit den besonderen Eigenschaften des Glockenklangs zu tun: Bei den vielen verschiedenen Schwingungen, aus denen sich der Ton zusammensetzt, fehlt merkwürdigerweise ausgerechnet der Grundton, also der Ton, der vom Ohr als wichtigster und für die Tonhöhe bestimmender wahrgenommen wird. Diesen Grundton ergänzt das Gehirn beim Hören; physikalisch ist er nicht nachweisbar. Aus der Menge der Schwingungen entsteht der charakteristische schwebende Klang.

„Eine Glocke ist wie eine menschliche Stimme“, findet Claus Peter, ebenfalls Glockensachverständiger in Westfalen. „Sie hat einen ganz eigenen Klang, mit dem sie Menschen sammelt und konzentriert.“ Kirchenglocken sind für ihn ein Schatz: „Manche davon sind 800 Jahre alt und gehören zu den ältesten liturgischen Instrumenten, die wir in unseren Gemeinden noch haben.“

Warum läuten die Glocken eigentlich?

Allerdings gerät dieser Schatz immer häufiger aus dem Bewusstsein, beobachtet Peter. „Wenn man heute fragt, warum Glocken läuten, bekommt man häufig zur Antwort: Weil es brennt oder jemand gestorben ist.“ Die vielen verschiedenen Funktionen der einzelnen Kirchenglocken seien oft gar nicht mehr bekannt. Wer weiß etwa heute noch, dass sie oft ganz bestimmte Aufgaben hatten – und zum Teil haben –, wie das Läuten während des Vaterunsers, der Evangeliumslesung oder der eucharistischen Wandlung, zu kirchlichen oder weltlichen Feierlichkeiten, aber auch als Warnung vor Feinden oder Feuer? Wer weiß, dass in Norddeutschland zu Beerdigungen meist mit der größten und tiefsten Glocke geläutet wird, während in Süddeutschland die kleinste und hellste Glocke als „Totenglöcklein“ dient?

Für die einen ist es ein "sakraler Brauch" – und für andere "nerviges Gebimmel"
Für die einen ist es ein "sakraler Brauch" – und für andere "nerviges Gebimmel"epd-Bild / Jens Schulze

Und wer weiß noch, dass Glockengeläut früher durchaus auch als Statussymbol eingesetzt werden konnte? „In der Zeit vor den elektrischen Läutemaschinen brauchte man schon mal drei oder vier Mann, um die größte Glocke zu läuten. Wer die also als Hochzeits- oder Totenglocke haben wollte, musste dafür zahlen – und das musste man sich leisten können“, erklärt Claus Peter.

Die Glocken haben unterschiedliche Namen

Auch dass Glocken Namen haben, ist weitgehend in Vergessenheit geraten – abgesehen von volkstümlichen Bezeichnungen wie dem „Dicken Pitter“ im Kölner Dom, eine der schwersten freischwingenden Glocken der Welt. Die Namen, die Gemeinden ihren Glocken verleihen, stehen dagegen mit deren Größe und liturgischen Funktion im Zusammenhang: Gloriosa etwa, „die Glorreiche“, häufig die größte Glocke in einem Geläut, auch Festtagsglocke genannt. Oder die Marienglocke, die in katholischen Gemeinden für das dreimal tägliche Angelusläuten erklingt.

Claus Peter bemüht sich in seiner Tätigkeit als Glockensachverständiger seit Jahren darum, dass Gemeinden den Wert ihrer Glocken wiederentdecken. „Sie sind doch viel zu schade dafür, einfach nur oben im Turm zu hängen“, meint er. Wer sich mit ihrem Klang, ihrer Gestaltung und ihrer Funktion im Gottesdienst beschäftige, könne viele neue Möglichkeiten für die Gestaltung des Gemeindelebens entdecken – etwa dadurch, dass ein bestimmtes Geläut gezielt für das Hervorheben besonderer Gottesdienste genutzt oder eine einzelne Glocke während der Taufhandlung geläutet werden könnte.

Besondere Chancen böte natürlich die Anschaffung eines neuen Geläuts, so Peter. „Dann können Gemeinden sich genau überlegen, was ihre Glocken aussagen sollen, vom Klang über die Form bis hin zu den Namen und Inschriften.“ Er selbst hat die Neugestaltung von mehr als 500 Glocken im Bereich der westfälischen Landeskirche begleitet­, von der Konzeption über den Guss bis hin zur Weihe – den Großteil davon allerdings in den Jahren zwischen 1980 und 2000. Danach­ machten sich die finanziellen Einbußen im kirchlichen Haushalt bemerkbar. Das Interesse ließ deutlich nach.

Was tun mit der Glocke, wenn sie nicht mehr gebraucht wird?

Statt mit neuen Glocken müssen sich die Glockensachverständigen in letzter Zeit immer häufiger mit der Frage beschäftigen, was eine Gemeinde mit denen machen soll, die aufgrund einer Kirchenschließung überflüssig werden. Nur in seltenen Fällen ist es möglich, die Glocken in ein schon bestehendes Geläut einzubinden – so geschehen in der Alten Kirche in Bönen, deren historisches Geläut durch drei Glocken aus Hörstel ergänzt wurde. Auch im Ruhrgebiet wurden manche Glocken aus minderwertigem Material durch solche aus aufgegebenen Kirchen ersetzt. Andere werden etwa nach Mecklenburg verschenkt.

Viele verschiedene Faktoren spielen bei der Weitergabe eines Geläutes eine Rolle, wie Claus Peter erklärt: Da ist zum einen die Statik, denn die schönste Glocke wird zur Bedrohung, wenn sie für den Kirchturm zu schwer ist oder ihn in ungünstige Schwingungen versetzt. Zudem kosten auch geschenkte Glocken Geld, etwa für den Transport und die Aufhängung. Und schließlich spielen auch ästhetische Aspekte eine Rolle: Besonders wohlklingende Ensembles sollte man nach Peters Meinung möglichst nicht auseinanderreißen – „das würde man ja bei einem Altar oder einer Orgel auch nicht machen“. Manche Geläute werden daher wahrscheinlich für immer verstummen, wenn eine Kirche aufgegeben wird.

Glocke gestohlen: Kupferglocken sind begehehrt

Ein weiterer Feind des Glockengeläuts lauert an unerwarteter Stelle: Es sind die hohen Preise auf dem Buntmetallmarkt, die Kupferglocken zu einem begehrten Rohmaterial machen. So kam es in den vergangenen Jahren immer häufiger zu Diebstählen, wie Peter berichtet. Im sauerländischen Halvar etwa wurde eine Glocke aus dem Jahr 1500 entwendet, während der Kirchturm für Bauarbeiten eingerüstet war. Einer Glockenfirma in Dorsten brachen Diebe ein Tor auf und transportierten das Diebesgut mit dem Gabelstapler ab. Und in Mecklenburg, wo Peter ebenfalls als Glockensachverständiger tätig ist, fand die Polizei eine historische Friedhofsglocke nur noch als Trümmer bei einem Schrotthändler. Peters dringender Rat lautet daher: Abgenommene Glocken sollte man gut unter Verschluss halten.

Zum guten Schluss: Hat ein Glockensachverständiger eigentlich eine Lieblingsglocke? Claus Peter muss erst eine ganze Weile überlegen. Die große Domglocke in seiner Heimatstadt Bamberg fällt ihm dann ein. Das Geläut der Marienkirche in Lippstadt. Und schließlich das mittelalterliche Ensemble der Marienkirche in Rostock: „Das ist so herausragend schön – das merken sogar Leute, die sonst mit Glocken nichts am Hut haben.“