Getrost ins neue Jahr

Gottes unaufhebbare Treue wird uns auch 2016 begleiten – über die Jahreslosung macht sich Pastor Heiko Naß Gedanken. Ein Gastbeitrag.

Margot Kessler / Pixelio

Die Jahreslosung lautet: „Gott spricht: Ich will euch trösten,  wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66, 13)
Zum 17. Geburtstag bekam ich von Verwandten eine Sammlung mit Langspielplatten. „Wir meinen, das ist etwas für dich“, sagten sie. Es war das Deutsche Requiem von Johannes Brahms. Da mein Musikgeschmack noch von den Beatles, Muddy Waters und anderen Legenden des Rock und Blues geprägt waren, hatte ich Schwierigkeiten, mich einzuhören. So wanderte der Schober ins Regal. Es dauerte, bis ich ihn wieder vornahm.
Noch heute erinnere ich mich, wie mich das Sopransolo in der Mitte des Werkes in den Bann gezogen hat: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, in Korrespondenz mit dem Chor gesungen, gesprochen zu allen, die Mühe und Arbeit haben. Wunderbare Musik, die dort aufklingt zu wunderbaren Sätzen, die in die Seele eingehen und tatsächlich trösten können. Das heißt, sie machen das Empfinden tiefer und die Gedanken weiter.

Die weibliche Seite Gottes

Wohl alle, die das Werk von Johannes Brahms kennen, werden beim Lesen der Losung für das Jahr 2016 die Musik mithören, die Stimme des Soprans und die großen Linien des Chores. Das Bild der tröstenden Mutter, die sich über ein trostbedürftiges Kind beugt, spricht von Urvertrauen, von bergender Zuflucht. In den letzten Kapiteln des Jesajabuches leuchten Worte auf, die Gott im Bild einer Frau beschreiben. Gott redet von sich aus weiblich. Der allmächtige Gott, dessen Gedanken höher sind als alle menschlichen Gedanken (Jesaja 55, 8), dessen Herrlichkeit als Licht aufgeht (Jesaja 60, 1), wird mit weiblichen Zügen repräsentiert.
Diese weibliche Seite Gottes ist immer zugewandt und nie gewaltsam. „Tröstet“ ist ein Schlüsselwort ihres Tuns. Es ist die große Klammer, die Gottes Handeln im Jesajabuch durchzieht und anzeigt, dass es bei allen Kenntnissen über unterschiedliche Entstehungszeiten als ein einheitliches Werk gelesen werden will.
Die Einheit der weiblichen und männlichen Züge in Gott hebt die Dominanz des männlichen Gottesbildes auf. Die vielen Jahrhunderte danach haben diese Erkenntnis oft verdunkelt.

Wir sind alle hilfsbedürftig!

Gott als zugewandte Mutter vermittelt auch eine Einsicht über uns selbst. In unserer Gesellschaft tragen wir einen unausgesprochenen Leistungsdruck vor uns her, in dem der schnelle Erfolg an erster Stelle steht. In einer kürzlich veröffentlichten Befragung gaben 72 Prozent der Kinder zwischen acht und zehn Jahren an, einmal oder mehrmals in der Woche an Erschöpfungszuständen zu leiden. Wir kennen ausreichend Beispiele von Burnout bei dem Anschein nach erfolgreichen Menschen.
So führt uns die Jahreslosung zu einem Zugeständnis. Auch wenn der innere Weg dahin manchmal weit ist, sind wir allen anderen darin verwandt, dass wir trost-, hilfsbedürftige, auf Hilfe anderer angewiesene Menschen sind. Das ist einfach gesagt, aber es fällt doch schwer, Verletzbarkeit und Schwäche als einen Teil, einen humanen Teil, von uns zu akzeptieren.

Gottes Liebe versagt nie

Die letzten Wochen habe ich Gespräche mit unbegleiteten minderjährigen Ausländern geführt. Der Jüngste, der ohne Eltern nach Schleswig-Holstein vertrieben wurde, ist elf. Viele sind erschöpft. Nach einiger Zeit gelingt es mit guter Betreuung in unseren Einrichtungen der Diakonie, diesen jungen Menschen langsam die Last der Flucht zu nehmen. Die Züge ihrer Gesichter werden dann jünger. Tagsüber trifft man sie aufrecht, oft mit festem Willen, etwas zu erreichen. Nachts aber, erzählen ihre Betreuer, sind sie in ihren Zimmern und weinen. Und auch das ist wahr: Es gibt Kinder, die es nie erfahren haben, dass eine Mutter oder auch ein Vater eine positive Beziehung zu ihnen aufgebaut hat. Die Jahreslosung muss ihnen wie eine Fremdsprache klingen. Und doch will Gott auch sie trösten.
In allen Erschütterungen, die das Leben bereithalten kann, hat die Jahreslosung ihren Grund in Gottes unaufhebbarer Treue. Gottes mütterliche Liebe versagt nie (Jesaja 49, 15). Die Gedanken führen zu lebendigen Erinnerungen, als die Mutter da war und tröstete, als die Knie kaputt waren oder die Verlorenheit in der Welt sich über eine Kinderseele senkte. Dieses Gefühl ist nie ganz weg, es ist etwas, das, – um Worte von Ernst Bloch aufzunehmen – „in die Kindheit scheint“. Die Jahreslosung bewegt uns, davon zu erzählen.
Unser Autor
Heiko Naß
ist Landespastor und Sprecher des Vorstandes des Diakonischen Werkes Schleswig-Holstein.