Gesunde Neugier

Über individuelle Erfahrungen mit Gott schreibt Rinja Müller. Sie ist Pastorin in Schenefeld bei Hamburg.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. “ aus 1. Kor 14, 1-3. 20-25
„‚Was ist eigentlich ‚Zungenrede‘?“ lautete die erste Frage, als wir im Bibelgesprächskreis über 1. Korinther 14 sprachen. Zungenrede ist eine Sprache, die nur der Sprechende versteht. Soll sie für andere verstehbar sein, muss sie gedeutet werden. Bei den Gläubigen in Korinth genoss die Zungenrede einen hohen Stellenwert. Denn die unverständlichen Worte galten als vom Heiligen Geist inspiriert. In sogenannten charismatischen Kreisen hat die Zungenrede noch heute ihren festen Platz im Lobpreisgottesdienst. 
Nach anfänglichem Befremden siegte die gesunde Neugierde im Bibelgesprächskreis. Man ließ sich auf die Frage ein, welches Ziel wohl mit der Zungenrede verfolgt werde. „Hat das nicht auch eine meditative Komponente?“, fragte ein Teilnehmer und eröffnete damit das weite Feld der Assoziationen und Vergleiche. Ähnlich meditativ wie in den Gesängen von Taizé sei es oder wie beim improvisierten Töne-Singen in der Kantorei. Reiseerinnerungen stiegen auf. Der Tanz der Derwische in Anatolien. Tänzer drehen sich so schnell im Kreis um die eigene Achse, dass sie in Ekstase geraten. Oder das lange gemeinsame Schweigen nach der Lektüre des biblischen Textes während einer Bibelstunde in Kanada. Die genannten Beispiele haben etwas gemeinsam: Es handelt sich um eine höchst individuelle Erfahrung, die in einer Gruppe gemacht wird. 
Paulus achtet diese individuellen Glaubensausdrücke, doch er fordert auch eine Deutung für die anderen Anwesenden: „Wer in Zungen redet, der redet für Gott. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.“ Individuelle Glaubenserfahrungen sind wichtig, aber sie sollen für alle nachvollziehbar zur Sprache gebracht werden. „Ach so“, ruft eine Frau im Bibelgesprächskreis spontan: „Paulus spricht von der Predigt! Ich höre etwas vom Glauben und gehe erbaut und getröstet nach Hause, wo ich entweder mit anderen darüber sprechen oder ganz für mich allein weiter nachdenken kann.“ Eine höchst individuelle Erfahrung, vielleicht etwas unspektakulärer als die Zungenrede.
Unsere Autorin
Rinja Müller
ist Pastorin in der Stephanskirchengemeinde Schenefeld bei Hamburg.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.