Geschichte spielend erleben?

Computerspiele: Die einen verteufeln sie – Kinder und Jugendliche können sich ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen. Die ComputerSpielSchule Greifswald zeigt, wie beide Welten zueinander finden.

Lehramtsstudent Christopher Wettke auf der Jahreskonferenz der Medienaktiv in MV.
Lehramtsstudent Christopher Wettke auf der Jahreskonferenz der Medienaktiv in MV.epd/Christine Senkbeil

von Christine Senkbeil
Greifswald. Der Bildschirm ist das neue Spielbrett. Die Welt der digitalen Spiele hat in so rasanter Geschwindigkeit den Lebensalltag der jüngeren Generation erobert, dass die Älteren kaum hinterher gekommen sind – Oder: Hinterherkommen wollten?!

"Eltern und pädagogisch Verantwortliche stehen der Computerspiel- und Unterhaltungskultur meist distanziert gegenüber", bestätigt Roland Rosenstock, Religionspädagoge an der Universität in Greifswald. "Aber sie nehmen im Medienalltag von Kindern und Jugendlichen nun mal einen festen Platz ein." Sieben von zehn Jugendlichen spielen laut der JIM-Studie 2014 regelmäßig an Konsolen, Handys oder dem PC. Jungen nutzen Computerspiele noch immer häufiger als Mädchen, nur zwei Prozent der Jungen spielen nie. Im Durchschnitt beschäftigen sich Jugendliche 77 Minuten am Tag mit Computerspielen: Jungen durchschnittlich 105 Minuten, Mädchen nur 48 Minuten.
Dass es also keinen Sinn hat, die Augen vor diesem Phänomen zu schließen, dürfte klar sein. Der Ansatz, den Rosenstock und seine Mitstreiter verfolgen, geht darum genau in die andere Richtung – ist gewissermaßen Flucht nach vorn.

Unterschiedliches Medienverständnis

2012 gründeten Rosenstock und seine Mitstreiter nach Leipziger Vorbild eine ComputerSpielSchule – als eine Art Verbindungselement dieser Welten. Das Konzept ist einfach: Eltern und Pädagoginnen werden hier einmal zu den Lernenden. Denn sie sind es ja, die die Chancen und Gefahren von Online-Games oftmals nur unzureichend einschätzen, da sie sich nicht in diesen sozialen Welten bewegten. Hier können sie Spielewelten selbst erleben und sich Wissen rund um Computerspiele aneignen, so zum Beispiel zum Jugendmedienschutz. "Wir wollen die Barrieren überwinden, die durch unterschiedliches Medienverständnis der Generationen entstanden sind", so Rosenstock.

Computerspiele – zwischen Spaß, Lernen, Anmache und Sucht

Doch dies ist längst nicht alles, was die ComputerSpielSchule bietet, die in Kooperation mit der Stadtbibliothek, dem Lehrstuhl für Religions- und Medienpädagogik der Ernst-Moritz-Arndt-Universität und der Evangelischen Akademie der Nordkirche arbeitet. Sie ist auch Ort für Forschung und Entwicklung in der Region. Als Knotenpunkt im landesweiten Netzwerk "Medienaktiv M-V" lädt sie regelmäßig zu Konferenzen. Auf der Frühjahrstagung ging es um "Computerspiele – zwischen Spaß, Lernen, Anmache und Sucht".
Computerspiele gehören in die Schule – so darin die klare Botschaft von Christopher Wettke, ebenfalls Mitglied der ComputerSpielSchule. Dem angehenden Geschichtslehrer ist es ein Anliegen, seine Lehrerkollegen von der schlichten Notwendigkeit zu überzeugen, digitale Spiele als Unterrichtsstoff zu betrachten. Zum einen, so findet er, gibt es genug Spiele, die sich hervorragend zur Wissensvermittlung auf moderne Art eignen. Zum anderen ist es unbedingt nötig, den Kindern und Jugendlichen die Kompetenz mit auf den Weg zu geben, gute  von schlechten Spielen unterscheiden zu können. "Die meisten Spiele, die von Jugendlichen gespielt werden, sind nun mal nicht nach pädagogischen Interessen aufgebaut, sondern nach kommerziellen", sagt er. Darum gehe es um Kritikfähigkeit. Jugendliche müssen erkennen, wenn sie manipuliert werden, wenn ihnen Falsches als Fakt untergejubelt werden soll.

Ein Spiel hat er mit in den Versammlungssaal gebracht, dass Gefahren und Potential aufzeigt: "Valiant Hearts" – zu deutsch: "Wackere Herzen". Es ist ein Kriegsspiel des französischen Entwicklerstudios Ubisoft Montpellier, das an echten Schauplätzen des Ersten Weltkriegs stattfindet und doch verantwortungsbewusst mit der Geschichte umgehen will.

Der Erste Weltkrieg als Computerspiel

Der Spieler steuert darin abwechselnd vier Figuren durch das Chaos des Ersten Weltkriegs: Als der Franzose Emile gräbt er sich durch die Stollen von Vauquois. Er schlüpft in die Rolle des deutschen Karl, der seine französische Frau und sein Kind in Frankreich zurücklassen muss. Er steuert den schwarzen Amerikaner Freddy durch die Grabenkämpfe von Verdun oder pflegt als Belgierin Anna Verschüttete aus den Trümmern von Ypern. Es geht nicht ums Erschießen in diesem Spiel, sondern darum, seine Menschlichkeit auch in widrigen Situationen zu bewahren.

"Gut ist, dass Geschichte hier personalisiert wird, herunter gebrochen auf kleinste Einheiten. So wird Geschichte greifbar. Ich ‚erlebe‘ den ersten Weltkrieg und zwar aus verschiedensten Blickwinkeln", so Wettke. Darin sieht der Pädagoge zugleich aber auch den Nachteil des Spiels. Durch die starke Identifikation mit den Figuren läuft der jung Spieler Gefahr, sich zu verlieren: "Die kritische Distanz ist dann leicht nicht mehr wahrnehmbar", meint er. "Da muss ein Schüler darauf aufmerksam gemacht werden, dass hier lediglich Perspektiven eingenommen werden, die nicht den Gesamtblick darstellen."

Außerdem sind häufig historische Details eingestreut, die absurd wirken: Der Hund mit der Gasmaske beispielsweise. "Den gab es wirklich! Aber es ist eben nicht offensichtlich, was ist Fakt, was Fiktion?", sagt Wettke. Darum sei das entsprechende historische Wissen nötig. Das nun wieder Geschichtsunterricht vermitteln müsse … Ein überzeugendes Argument für die Schüler,  dass sich Schule lohnt. Und für Erwachsene, dass es die Perspektive weitet, auch einmal in die Lebenswelt der Jugend einzutauchen.