Genest: Gedenkstätten entsetzt über Antisemitismus

Für Brandenburgs NS-Gedenkstätten ist die Bekämpfung des Antisemitismus ein herausragendes Anliegen. Mit unterschiedlichsten Informations- und Bildungsangeboten klären sie über die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Mord an den europäischen Juden, die Schoah, auf. Angesichts zunehmender antisemitischer Entwicklungen im Zuge des Nahostkriegs nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel müsse die Bildungsarbeit noch einmal überdacht werden, sagte die Politikwissenschaftlerin Andrea Genest vom Direktorium der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Stiftung hat ihren Sitz in Oranienburg.

epd: Wie wirkt sich der Nahostkrieg auf die alltägliche Arbeit der brandenburgischen Gedenkstätten aus?

Genest: Der Angriff des 7. Oktober 2023 forderte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Bildungsabteilungen. Sie haben sich intensiv mit möglichen Fragen und Herausforderungen in der Gruppenbetreuung auseinandergesetzt. In Sachsenhausen gab es beispielsweise einen Vorfall mit einer Berliner Schulklasse, unter ihnen viele mit familiären Beziehungen in den Nahen Osten. Sie legten eine starke Abwehrhaltung gegen den Gedenkstättenbesuch an den Tag, weil Sachsenhausen für sie ein jüdischer Ort war. Diese Blockade musste der Guide zunächst durch Gespräche abbauen, um überhaupt eine reguläre Führung machen zu können. Außerdem gab es in den ersten Wochen nach dem Hamas-Überfall zahlreiche Feedback-Postkarten, die man in einer Ausstellung anonym in einen Kasten werfen kann, mit der Aufschrift „#freepalestine“, aber teilweise auch mit rechtsextremen und antisemitischen Inhalten. Allerdings haben wir auch vor dem 7. Oktober vereinzelt israelfeindliche Statements von Besuchern festgestellt, etwa auf Kleidung oder Accessoires.

epd: Wie geht die Stiftung mit dem zunehmenden Antisemitismus in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen um?

Genest: Wir sind schockiert über die Ausmaße von Antisemitismus und Rechtsextremismus und über das Schwinden der Grenzen des Sag- und Machbaren in der Gesellschaft. Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob unsere Bildungsarbeit die erreicht, die wir erreichen wollen. Vielleicht müssen wir noch stärker den Bogen von den historischen Erfahrungen des Nationalsozialismus zur Lebenswirklichkeit junger Menschen schlagen, deutlicher machen, dass Demokratie ein politisches System ist, an dem stetig gearbeitet werden muss. Sie ist nie abgeschlossen, sondern muss im Zweifelsfalle verteidigt werden.

epd: Wen wollen sie stärker erreichen als bisher – und wie?

Genest: Nicht zuletzt geht es auch um die Menschen, die nie eine Gedenkstätte besuchen. Darum haben wir uns bereits seit einiger Zeit vorgenommen, stärker in die Region zu wirken, beispielsweise mit dem vor einem Jahr ins Leben gerufenen „Netzwerk Zeitgeschichte“. Zusammen mit der Berliner Humboldt-Universität und dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam wollen wir Gedenkstätten, Wissenschaft und Geschichtsinitiativen vernetzen und auf diese Weise kritisches Geschichtsbewusstsein stärker in der Gesellschaft verankern. In diesen Kontext gehört auch, dass die Gedenkstätte Lieberose in Jamlitz nun Teil der Stiftung geworden ist und in den nächsten Jahren ausgebaut werden soll. Gerade im Süden Brandenburgs ist ein solcher zeitgeschichtlicher Bildungsort, dessen Geschichte eng mit der Schoah verknüpft ist, besonders wichtig.

epd: Was für größere Vorhaben stehen 2024 an?

Genest: Hier sind zunächst die Jahrestage der Befreiung zu nennen, die in Sachsenhausen und Ravensbrück am 14. April begangen werden. Brandenburg-Görden folgt eine Woche später am 21. April. Die diesjährige 17. Europäische Sommer-Universität Ravensbrück wird sich mit Täterschaft in den Lagern auseinandersetzen. Im Frühjahr wird die überarbeitete Ausstellung zum „Inspekteur der Konzentrationslager“ in Oranienburg eröffnet. Im Zentrum steht ein neu entwickelter Medientisch, der die Thematik der Schreibtischtäter in der zentralen KZ-Verwaltung aufbereitet. In der Gedenkstätte Sachsenhausen wird im Sommer ein Gedenkzeichen für die bisher vernachlässigte Gruppe der „Befristeten Vorbeugungshäftlinge“ errichtet. Dabei handelt es sich um häufig wegen geringer Delikte Verurteile, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafe ins KZ eingewiesen wurden.

epd: Was haben Sie außerdem vor?

Genest: Im Juni wird im Stadtmuseum in Brandenburg an der Havel eine partizipative Ausstellung über den Maler Paul Goesch eröffnet, der 1940 in der dortigen Euthanasie-Anstalt ermordet wurde. Sie bildet den Abschluss eines Kooperationsprojekts der Euthanasie-Gedenkstätte, bei dem ehrenamtliche Kuratorinnen und Kuratoren mitwirken. Anlässlich des 30. Jahrestages des Abzugs der GUS-Truppen zeigt die Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam ab Mitte Juni in Kooperation mit der Schlösserstiftung eine Sonderausstellung mit Alltagsfotografien aus dem Sperrgebiet des sowjetischen Geheimdienstes in der Nauener Vorstadt.

epd: Wie haben sich die Besucherzahlen 2023 im Vergleich zu den Vorjahren entwickelt?

Genest: Nach den Einbrüchen während der Corona-Pandemie sind die Besucherzahlen in allen Gedenkstätten der Stiftung kontinuierlich angestiegen. 2023 wurden rund zwei Drittel des Vor-Corona-Niveaus erreicht. In Sachsenhausen liegt die Zahl bei rund 500.000 und in Ravensbrück bei rund 70.000.

epd: Was interessiert die Gedenkstättenbesucher besonders? Gibt es da Veränderungen im Lauf der Zeit – und wie reagieren Sie darauf?

Genest: Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Die meisten Menschen suchen nach dem, was sie bereits wissen. Das bedeutet, dass Gruppen aus dem Ausland meist nach Spuren von Inhaftierten aus ihren Ländern suchen. Jüngere haben Bilder des Holocaust vor Augen und suchen nach der Gaskammer. Ältere erinnern sich an die Gedenkstätte zur Zeit der DDR. Fragen nach den unterschiedlichen Bedingungen der verschiedenen Haftgruppen nehmen in den letzten Jahren deutlich zu oder nach dem weiblichen und männlichen Bewachungspersonal sowie Fragen zu Erinnerung und Gedenken. Da der Blick auf die Geschichte einem steten Wandel unterliegt, ist es eine permanente Aufgabe unserer Gedenkstätten, auf neue Fragestellungen zu reagieren und entsprechende Angebote zu entwickeln.